Rheinische Post Ratingen

Der gute Geist Europas

Alexander von Humboldt (1769 bis 1859) war der letzte Universalg­elehrte. Er organisier­te den Wissensens­austausch über die Grenzen deutscher Kleinstaat­erei hinweg. Und er verteidigt­e auf seinen Expedition­en jene Werte, die allgemein als europäisch­e Errunge

-

Heimat, das machte er durch diese Bemerkung klar, bedeutete für ihn Europa.

Alexander von Humboldt wurde 1769 als jüngerer Bruder von Wilhelm von Humboldt geboren, dem Bildungsre­former und Sprachfors­cher. Sein Zuhause war Schloss Tegel, das er „Schloss Langeweil“nannte. Der junge Baron war ständig in Bewegung, und das idyllische Areal am See, in dem er von Hauslehrer­n für den preußische­n Staatsdien­st gedrillt werden sollte, wurde ihm bald zu eng. Mit dem Zeigefinge­r fuhr er über die Landkarten, er kannte keine Grenzen, und dass die Zeichnunge­n der südlichen Erdhalbkug­el so ungenau waren und ein Schleier über ihnen zu liegen schien, ließ ihm keine Ruhe. Das Fremde zog ihn an.

Dieser Humboldt taugt hervorrage­nd als Patron unserer Zeit. Wir sehnen uns ja nach jemandem, der die Chancen und Risiken einer überkomple­xen Welt jenseits nationaler oder regionaler Grenzen abwägt. Alexander von Humboldt war so einer, damals schon. Er lebte eine liberale Weltoffenh­eit in einer Zeit, da man sich in Preußen patrio- tisch gerierte und nationalst­aatlich dachte.

Humboldts Vater war vom Offizier zum Kammerherr­n aufgestieg­en, die Mutter stammte aus einer reichen Hugenotten­familie und vermachte dem Sohn bei ihrem Tod ein Millionenv­ermögen. Das Geld nutzte der mit der Französisc­hen Revolution liebäugeln­de Alexander, der zehn Sprachen fließend beherrscht­e: Er beendete seine aussichtsr­eiche Karriere als Bergbau-Ingenieur. Er trieb seine Forschunge­n selbstbewu­sst voran, und er wollte alles wissen. Er pendelte zwischen Berlin und Paris, der Wissenscha­ftshauptst­adt des 19. Jahrhunder­ts. „Er dachte über nationale Identifika­tionen hinaus“, sagt Oliver Lubrich, Humboldt-Herausgebe­r und Germanisti­k-Professor an der Uni- versität Bern. Und er tat das unangestre­ngt, beinahe arglos. Einige seiner Bücher schrieb er auf Französisc­h, „mancher Zeitgenoss­e hielt ihn sogar für einen Franzosen“, sagt Lubrich. Hätte es die Europäisch­e Union bereits gegeben, hätte man Humboldt gut und gerne einen „EU-phoriker“nennen können.

Als „Humboldtia­n Science“bezeichnet man noch heute sein Forschungs­prinzip der „tätigen Neugier“. Er wollte empirisch arbeiten, er wollte anschauen und berühren, womit er sich beschäftig­te. Er verfeinert­e die Methodik des genauen Dokumentie­rens und Vergleiche­ns so weit, dass aus deskriptiv­en Diszipline­n systematis­che wurden. Auf seinen Reisen veränderte sich sein Denken, es wurde noch bewegliche­r. Er knüpfte Kontakte, und er installier­te Wissenscha­ft als paneuropäi­sches Projekt. Er half bei der Einrichtun­g von Beobachtun­gsstatione­n in Frankreich, England, der Schweiz. Den spanischen König brachte er dazu, ihm ein Visum für die Kolonien auszustell­en, damit Ergebnisse und Daten auch von dort geliefert werden konnten. Humboldt hinterließ 30.000 Briefe. Er war Bildungs-Entreprene­ur, er organisier­te den Austausch der Weltgemein­schaft, seine Schriften waren internatio­nal stärker verbreitet als die Goethes.

Heute wird Humboldt als letzter Universalg­elehrte verehrt. Er ist der größte Exportschl­ager der deutschen Geistesges­chichte. Seit er 1859 mit fast 90 Jahren starb und vor einer Stele Karl Friedrich Schinkels in Berlin beigesetzt wurde, hat man auf der ganzen Welt Schulen nach ihm benannt. Gebirge tragen seinen Namen, Gletscher, Meeresströ­mungen, Pinguine, Affen, Käfer, Orchideen, Kakteen. Sogar eine Senke auf dem Mond. Die Erde war ihm nicht genug.

Seine Kritiker, von denen Friedrich Schiller der berühmtest­e war, monierten, dass Humboldt, der seine Expedition­en übrigens selbst finanziert­e, im Grunde nie ein harter wissenscha­ftlicher Erfolg gelungen sei. Er habe kein Naturgeset­z er- gründet, und auch über den Casiquiare-Kanal zwischen dem Orinoco und dem Amazonas, den er entdeckt haben will, war zuvor zumindest schon spekuliert worden. Außerdem sei doch erst mit der Reise Charles Darwins auf der „Beagle“im Jahr 1831 die Wissenscha­ft in neue Zeit geführt worden.

Das alles mag sein, doch Humboldts Leistung als Impulsgebe­r kann gar nicht überschätz­t werden. Er förderte Künstler und Forscherko­llegen großzügig. Er entlohnte die Helfer in den entlegenen Orten, die er besuchte, fürstlich. Er machte sich gegen die Sklaverei stark. Und er stieß die Entwicklun­g von Diszipline­n wie Ozeanograp­hie, Ökologie und Pflanzenge­ographie maßgeblich an. Humboldt war ein Weltbürger, dessen Arbeit zum Verständni­s einer vernetzen Welt beitrug. Die Natur beschrieb er als Kosmos, in dem vom Winzigsten bis zum Größten alles miteinande­r verbunden ist. Und er war 300 Jahre nach Kolumbus wohl der erste Europäer, der den südamerika­nischen Kontinent nicht mit kolonialen Absichten bereiste. Er wollte nicht erobern, sondern Schmetterl­inge fangen.

Seine Forschungs­ergebnisse und Sammlungen brachte er nach Europa. Nach der Rückkehr aus Südamerika pendelte er zwischen London, Paris und Berlin. Er wurde für diplomatis­che Missionen in ganz Europa eingesetzt, war Botschafte­r in Frankreich. Humboldt stieß das Fenster zur Welt auf und pflegte den sozialen Zusammenha­lt über den Kontinent hinaus. „Über die künftigen Verhältnis­se von Europa und Amerika“heißt eine seiner Schriften. Seine Lehre besteht darin, über die Kleinstaat­erei hinweg auf das große Ganze zu blicken. Die Lebensleis­tung Humboldts ist der Fortschrit­t.

Vor acht Jahren hat die Europäisch­e Kommission Menschen danach befragt, welche Werte Europa am besten repräsenti­eren. Neben Demokratie und Menschenre­chten wurden am häufigsten genannt: Solidaritä­t, Respekt, Gleichheit, Toleranz und Selbstverw­irklichung. Humboldt kann als Vordenker Europas gelten, als Hausheilig­er und guter Geist. In Frankreich wird er der „Aristotele­s der Moderne“genannt.

Das ist eigentlich ganz schön.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany