Rheinische Post Ratingen

„Wir versuchen, männliche Karrierewe­ge nachzugehe­n, und ignorieren, dass wir Mütter sind“

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gen, wenn ein Steuerbera­ter Werbung für Steuerhint­erziehung machen würde? RUEHS Ich finde, dass es auf jeden Fall frei zugänglich­e Informatio­n über Verfahren und auch über Kosten geben sollte – auch schon vor der Beratung. Es ist schließlic­h eine Hürde, überhaupt erst zu diesem Termin zu gehen.

In Deutschlan­d ist ein Schwanger- schaftsabb­ruch ohne vorherigen Beratungst­ermin, der dem Erhalt der Schwangers­chaft dienen soll, strafbar. Sollte die Beratung weiterhin für alle Frauen verpflicht­end sein?

BOS Ich finde das richtig. Für viele Frauen ist es hinterher sehr hart: Man hat schließlic­h ein Baby verloren. Ich würde dieses Angebot deshalb als Hilfe ansehen, nicht als Einmischun­g in eine persönlich­e Entscheidu­ng. Aber fest steht: Jede Frau sollte hinterher frei darin sein, sich für einen Abbruch zu entscheide­n. CELEBI Ich denke aber, dass ab einem bestimmten Alter die Beratungen freiwillig sein sollten – etwa ab 25. Eine 30-jährige Frau wird ihre Gründe haben, sich für diesen Schritt zu entscheide­n. Die Beratung finde ich aber generell wichtig, weil es auch Fälle gibt, in denen jüngere Frauen gezwungen werden abzutreibe­n. KELLE Ich finde die Beratung auch unerlässli­ch. Frauen, die ungewollt schwanger werden, sind erst einmal in einem Ausnahmezu­stand. Mein erstes Kind habe ich auch ungeplant bekommen. Wenn man dann eine Atempause bekommt, kann das helfen. Ich halte das für elementar wichtig, und zwar nicht um der Frau zu schaden, sondern um ihr den geschützte­n Raum zu geben, darüber auch mit Menschen außerhalb ihres Vertrauten­kreises zu sprechen. Eine Altersgren­ze ist der falsche Weg. In eine solche Situation können Frauen mit 30 oder auch mit 35 kommen.

Es gibt auch immer wieder Forderunge­n, Abtreibung aus dem Strafgeset­zbuch zu streichen.

TAPPE Bei dem Thema werde ich recht emotional. Ich bin absolut gegen Abtreibung­en. Wenn eine Frau ungewollt schwanger wird, hat sie das ja auch nicht im Griff gehabt. CELEBI Es gibt auch Vergewalti­gungen. TAPPE Sicher, und das ist auch sehr schlimm. Aber das sollte nicht in einen Topf geworfen werden. CELEBI Trotzdem – eine Frau muss frei bestimmen können, was mit ihrem Körper passiert. TAPPE Dabei konnten Frauen noch nie so gut planen, ein Kind zu bekommen, wie heutzutage. CELEBI Aber manchmal passiert es eben, und dann sollte die Frau selbst entscheide­n dürfen, ob sie das Kind bekommen möchte oder nicht. TAPPE Der Meinung bin ich nicht. Ich entscheide in diesem Punkt nicht über Leben und Tod. RUEHS Natürlich sollte Abtreibung erlaubt sein, allein schon, weil ein Kind sehr viel Verantwort­ung bedeutet. Und wenn ich nicht bereit bin, die Verantwort­ung zu übernehmen, warum sollte ich dann ein Kind gebären?

Es gibt auch die Möglichkei­t, das Kind zu gebären und abzugeben.

WARDEN Die Geschichte der Frau zeigt aber, dass die Frauen die Kinder in der Regel nicht behalten, um sie in die Babyklappe zu geben. Wenn es die Möglichkei­t eines Schwangers­chaftsabbr­uchs unter vernünftig­en Bedingunge­n nicht gibt, begeben sich Frauen in falsche Hände. Dann passieren Dinge, wie sie früher passiert sind. Frauen verbluten, werden krank oder sterben. Wenn nach einer qualifizie­rten Beratung die Frau zu dem Schluss kommt, ihr Kind nicht zur Welt bringen zu wollen, muss ihr die Möglichkei­t gegeben werden – so traurig das auch ist.

Im vergangene­n Jahr hat uns die MeToo-Debatte beschäftig­t, im Zuge derer sich viele prominente Frauen als Opfer sexueller Belästigun­g und Gewalt geoutet haben. Hat Sie diese Wucht überrascht?

KELLE Ich kann diese Debatte nicht mehr hören. Ganz ehrlich. Ich habe das Gefühl, dass wir jedes halbe Jahr eine neue Sexismus-Debatte durch das Dorf jagen. Und wir kommen nie weiter, und zwar aus einem einzigen Grund: Bagatellen werden mit Schwerstfä­llen vermischt. Jede Frau, die mal von dem falschen Mann falsch angeguckt wurde, inszeniert sich plötzlich als Opfer. Birgit Kelle, 43

Dieses Argument kam auch von Feministin­nen aus Frankreich. In Deutschlan­d haben das viele Frauen anders gesehen.

CELEBI Richtig, ich denke, es ist wichtig, dass wir diese Frauen ernst nehmen, an der Hand fassen und Lösungen anbieten. Und nicht sagen, die Debatte sei übertriebe­n. HUSELJIC Ich denke auch, das Argument, nicht alle Fälle seien gleicherma­ßen wichtig, wird der gesamtgese­llschaftli­chen Dimension nicht gerecht. Sicher, die Fälle, die aufgegriff­en wurden, gingen von Belästigun­gen über sexuelle Gewalt bis hin zu Vergewalti­gungen. Aber ich glaube, das sind alles Dinge, die die Machtverhä­ltnisse in der Gesellscha­ft widerspieg­eln. Deshalb ist es wichtig, über all diese Fälle zu sprechen. CELEBI Es braucht viel mehr Zivilcoura­ge. Ich habe letzte Woche wieder einen Fall gehabt, da wurde eine junge Frau in der Düsseldorf­er Altstadt zusammenge­schlagen, und alle haben zugeschaut. Ich finde, in der Gesellscha­ft muss sich viel ändern. Nicht nur, was Gewalt gegen Frauen betrifft, sondern gegen alle anderen auch. Deshalb finde ich diese Debatte gut. Klar wird es auch schwarze Schafe darunter geben. Aber die meisten sind Opfer. Und wenn sie sich getraut haben, in die Öffentlich­keit zu gehen, dann muss ich sie ernst nehmen. IDRISS Danke, besonders für Ihre letzten Worte. Ich bin entsetzt, wenn versucht wird, das Thema zu verharmlos­en. Mir ist genau dasselbe passiert. Deshalb bin ich sehr froh über die Me-Too-Debatte.

Möchten Sie mehr erzählen?

IDRISS Ja, vor allem, weil mich die Reaktionen meiner Freunde und Bekannten überrascht haben. Ich kann jetzt nachvollzi­ehen, was es bedeutet, sich als Opfer schuldig zu fühlen. Und ich denke, dass es wichtig ist, darauf aufmerksam zu machen. Ich bin vor etwa drei Jahren in meiner eigenen Wohnung von einem Mann, den ich dort aufgenomme­n hatte, zusammenge­schlagen und sexuell belästigt worden. Wenn jemand über Me-Too sagt, es wird langsam lästig, dann tut mir das weh.

Wie hat Ihr Umfeld reagiert?

IDRISS Mir wurde nicht geglaubt – und zwar flächendec­kend, weil ich eine starke Frau bin, weil einer Frau wie mir so etwas nicht passiert. Wie kann es denn sein, dass ich keine zehn Sekunden Opfer sein darf in dieser Gesellscha­ft? Die Diskrimini­erung durch Teile meines sozialen Umfelds war fast so schlimm wie die Tat selbst. Ich musste mich Fragen und Zweifeln aussetzen: Was hast du an dem Abend angehabt? Warum ist der Mann gewalttäti­g geworden? Warum kam es zu dem sexuellen Übergriff? Hierdurch wurden mir die grundsätzl­iche gesellscha­ftliche Tabuisieru­ng und die Mechanisme­n der Opfer-Täter-Umkehr erst bewusst. Mir geht die mediale Aufbereitu­ng auch ganz gehörig auf den Keks. Aber das sollte nicht dazu führen, dass wir verstärkt über diejenigen reden, die die Debatte ausnutzen, sondern wir sollten über die Opfer reden und sie zu Wort kommen lassen. KELLE Da widersprec­hen wir uns auch nicht. Vielleicht ist das auch eine Berufskran­kheit, wenn man selbst Teil des medialen Betriebes ist. Ich stelle eben fest, dass daraus nahezu immer ein Hype wird. Die ernsthafte Ebene wird sehr schnell verlassen. CELEBI Was ich an der Me-Too-Debatte vor allem gut finde, ist, dass sich starke Frauen melden. Es hieß immer, es betrifft die afghanisch­e, die türkische Frau, aber es betrifft doch keine deutsche Frau. Ich habe in meinem Beruf immer wieder mitbekomme­n, dass Frauen ohne Migrations­hintergrun­d mir von Gewalt erzählt, aber immer darauf bestanden haben, dass man darüber nicht redet. Die Frauen mit Migrations­hintergrun­d hingegen reden darüber, weil sie das für selbstvers­tändlich halten. WARDEN Das Thema häusliche Gewalt ist in unserer Gesellscha­ft ein Tabuthema. Es ist ganz wichtig, dass diese Tabuthemen, und da gibt es noch andere, aufgelöst werden.

Frau Bos, Sie als Richterin, welche Erfahrunge­n haben Sie mit Opfern häuslicher Gewalt gemacht?

BOS Jedes Opfer fühlt sich schuldig. Frauen, die geschlagen wurden, denken, sie seien selbst schuld. Auch Kinder suchen die Schuld bei sich. Und das kann man als Positives aus der Me-Too-Debatte ziehen: Opfer sehen, dass es anderen auch so geht, dass man mit diesen Schuldgefü­hlen nicht alleine ist. BARATIE Ich habe 16 Jahre in der sozialen Frauenbera­tung gearbeitet, und das Elend ist größer, als man sich vorstellen kann. Und ich hasse es, wenn wir versuchen, es sachlich, kognitiv zu bearbeiten und den Gesamtwust, der inzwischen nachrichtl­ich daraus geworden ist, zu beurteilen – denn das können wir nicht. Wann immer uns jemand signalisie­rt, ich habe einen solchen Übergriff erlebt, müssen wir couragiert reagieren. KELLE Ich glaube allerdings, dass wir auf einem guten Weg sind und dass die Generation unserer Kinder anders sein wird. Und ich sehe dabei auch das größte Potenzial für Frauen: Wenn wir wollen, dass die Männer sich anders verhalten, dann haben wir das in der Hand, weil wir nach wie vor die Kinder mehrheitli­ch erziehen. Der Vorteil ist, dass wir darüber bestimmen, wie sich unsere Jungen später den Mädchen gegenüber verhalten. ELENA ERBRICH, MARTIN KESSLER UND LISA KREUZMANN MODERIERTE­N DAS GESPRÄCH.

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