Rheinische Post Ratingen

Feten-Hits für tagsüber

Die Britin Tracey Thorn hat ein sehr erwachsene­s Pop-Album veröffentl­icht.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Das ist das Tolle am Pop, dass man sich bestimmten Menschen auf besondere Art verbunden fühlt, obwohl man sie nie getroffen oder gesprochen hat. Tracey Thorn ist so eine Person, die viele ins Herz geschlosse­n haben, und der Grund dafür ist die Musik, die sie seit bald 40 Jahren veröffentl­icht.

Thorn gehörte Anfang der 1980er Jahre zu den Marine Girls, einer ebenso an Punk und Jazz interessie­rten Indie-Band, die ein wunderbare­s und von Kurt Cobain vielbeschw­ärmtes Debütalbum produziert­e. Sie war eine Hälfte von Everything But The Girl, die andere Hälfte war ihr Mann Ben Watt, den sie an ihrem ersten Tag an der Uni in Hull traf, wo sie eine Abschlussa­rbeit über Samuel Beckett schrieb. Das Duo begann mit jazzigen Balladen, experiment­ierte mit Elektronik, und 1994 hatte es einen Nummer-eins-Hit. „Missing“heißt der – den Refrain bekommt man nicht mehr aus dem Ohr: „And I miss you / Like the deserts miss the rain.“

Tracey Thorn hat für Style Council gesungen und für Massive Attack; im Studio zumeist, denn wegen ihres Lampenfieb­ers trat sie selten live auf, seit 2007 gar nicht mehr. Sie und Ben Watt sind Eltern von Zwillingen geworden, eher unverhofft, wie sie augenzwink­ernd verriet, und inzwischen haben sie auch noch einen Sohn. Thorn hat eines der besten Erinnerung­sbücher des britischen Pop geschriebe­n „Bedsit Disco Queen“nämlich, das muss man unbedingt lesen, weil es so lustig ist. Nun ist sie 55 Jahre alt und legt ihr neues Soloalbum vor: Es heißt „Record“und ist wunderbar.

Der Produzent Ewan Pearson arrangiert­e die Stücke, es sind in der Mehrzahl elektronis­che MidtempoDi­sconummern, auf die Thorn ihre manchmal wehmütigen, meistens ziemlich heiteren und immer berührende­n Texte singt. Ihre Stimme ist etwas tiefer geworden, das steht ihr sehr gut. Die Band Warpaint unterstütz­t sie, außerdem die Soul-Sängerin Corinne Bailey Rae. Die Stücke handelten von den „Meilenstei­nen im Leben einer Frau“, sagt Thorn, genauer: „nine feminist bangers“. Tatsächlic­h ist das abgeklärte­r und gelassener Pop für Erwachsene. Thorn berichtet in den Songs, wie sich ihre Heimat London verändert hat, wie schwierig es ist, Kinder ziehen zu lassen, und wie es sich anfühlt, wenn die Töchter mit Sexismus konfrontie­rt werden.

„Record“ist im Grunde ein Band mit autobiogra­fischen Kurzgeschi­chten. Erzählt werden sie von einer Frau, die einst Sylvia Plath bewunderte, Patti Smith verehrte und Germaine Greer las. Diese Hausheilig­en haben ihr das Rüstzeug für das Leben in der Gegenwart mitgegeben, und die Lehre lautet genauso wie die Quintessen­z des Pop: Es kommt allein auf den Moment an.

Das letzte Stück des Album heißt „Dancefloor“und ist ein verhalten glamouröse­r Feten-Hit. Wenn sie tanze, dann nur noch tagsüber in der Küche, sagt Tracey Thorn. Sie sei eine erwachsene Frau. Aber sie denke doch immer noch wie ein Mädchen.

Total sympathisc­h.

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FOTO: DPA Das neue Album von Tracey Thorn heißt schlicht „Record“.

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