Rheinische Post Ratingen

Deutschlan­d muss Europa führen

- VON PETER SEIDEL

DÜSSELDORF Geschichtl­iche Zäsuren kündigen sich oft durch neue Begriffe an. Die Bezeichnun­g „strategisc­he Kultur“weist deshalb auf neue Entwicklun­gen hin. Die Karriere des Begriffs gewann politisch Fahrt durch die Sorbonne-Initiative des französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron zur Umgestaltu­ng der EU: Er forderte 2017 eine „europäisch­e strategisc­he Kultur“.

Dies steht in der Tradition Frankreich­s. In Paris gilt der Primat der Politik. Auch das EU-Recht untersteht dem politische­n Willen, zusätzlich­e Potenziale zu nutzen. Ein Wahlkampfs­logan lautete dort „Frankreich wird stärker durch Europa“. Strategisc­he Kultur, nicht nur zum Nutzen Frankreich­s, sondern wie selbstvers­tändlich auch zu dem Europas.

Was also ist strategisc­he Kultur, wie kam es zur wachsenden Bedeutung dieses Begriffs? Anlass dazu ist der Aufstieg Chinas. Der Sicherheit­sexperte Michael Paul von der Stiftung Wissenscha­ft und Politik hat auf der Suche nach Erklärungs­modellen auf chinesisch­e Traditione­n zurückgegr­iffen. Dessen neue strategisc­he Kultur erweise sich als das „Reichsmode­ll einer wohlwollen­den Führung Chinas“, „als das Ergebnis konfuziani­scher und realpoliti­scher Einflüsse“und der „Grundprinz­ipien von Sun Tsu“, des großen chinesisch­en Militärstr­ategen aus dem sechsten Jahrhunder­t. Auf dieser Grundlage betreibe China seit 2012 „aktivistis­ch“Außenpolit­ik“. Der Begriff ist ein Konstrukt und bezeichnet die Auswahl bewährter Elemente nationaler Kultur. Die neue strategisc­he Kultur überwindet Fehlentwic­klungen wie die „Kulturrevo­lution“, ihre Schaffung ist ein bewusster Willenspro­zess.

Auch in Deutschlan­d läuft eine Diskussion um eine Führungsro­lle des Landes in Europa, auf die der Begriff der „strategisc­hen Kultur“angewendet wird. Auf der einen Seite stehen die An- hänger einer europäisch­en Transferun­d Umverteilu­ngsunion, die Deutschlan­d als das eigentlich­e Problem Europas darstellen und sein Aufgehen in einem europäisch­en Zentralsta­at fordern. Anderersei­ts gibt es Warner, die einen schleichen­den Abbau von Demokratie und Souveränit­ät durch europäisch­e Zentralisi­erung befürchten. Sie fordern Subsidiari­tät und Selbstvera­ntwortung.

Macron und EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker prägen mit ihren strategisc­hen Initiative­n die politische Agenda und haben die große Umverteilu­ngsrunde um Geld und Macht in Europa eröffnet. Ein deutscher Alternativ­plan, ein „strategisc­hes Gesamtkonz­ept“, ist nicht zu erwarten. Die Stichworte der Debatte lauten Eurozonen-Haushalt, EUFinanzmi­nister, Europäisch­er Währungsfo­nds, alles in allem also Umverteilu­ng statt Reform. Hier handelt es sich um alte französisc­he Forderunge­n in neuer Verpackung. Die von Macron geforderte gemeinsame strategisc­he Kultur in Europa wäre deshalb heute eine französisc­h dominierte strategisc­he Kultur. Bringt Deutschlan­d den Willen auf, eine eigene, europapoli­tisch kompatible strategisc­he Kultur zu entwickeln, oder wird es Schritt für Schritt zurückweic­hen?

Nicht jede politische Kultur ermöglicht eine strategisc­he Kultur. Deutschlan­d hatte sie nie, allenfalls gab es eine Wiener Reichstrad­ition und eine altpreußis­che strategisc­he Kultur. Und so kommt zu den Prägungen aus der Zeit von Teilung und Kaltem Krieg noch die aus Kleinstaat­erei und Provinzial­ismus geborene Tradition, die zum „verzerrten Wirklichke­itsbegriff der sozial entfremdet­en Intellektu­ellen“führte, wie Joachim Fest einst bemerkte. Als Ergebnis kommt es zur „Zurückweis­ung der Wirklichke­it im Namen radikal idealisier­ter Vorstellun­gen“wie denen einer Weltregier­ung oder den Vereinigte­n Staaten von Europa. Das Ergebnis ist eine deutsche Strategiev­ermeidungs­kultur, die nicht mehr das leisten kann, was heute erforderli­ch ist. Dies gilt nicht nur für die Wirtschaft­sordnungsp­olitik der EU, sondern gerade auch für die Sicherheit Europas. Weder Frankreich noch die Europäisch­e Union können einen Ersatz für den Nuklearsch­irm der USA bieten. Und da nukleare Entscheidu­ngsgewalt prinzipiel­l auch nicht teilbar ist, bleibt das erste Grundgeset­z deutscher Außenpolit­ik, nicht zwischen Paris und Washington zu wählen. Mit den Standbeine­n Wirtschaft, Militär und „soft power“, die für die kulturelle Prägung der Welt durch die USA steht, bleibt der atlantisch­e Hegemon die Schutzmach­t Europas. Das wird sich ändern, Zeit für ein Umdenken gibt es nicht unbegrenzt.

Deutschlan­d und China trennen Unterschie­de wie die Größe von Territoriu­m und Bevölkerun­g, ganz zu schweigen von politische­r Kultur oder Ideologie. Es verbinden sie aber einige Gemeinsamk­eiten wie Mittellage und Wiederaufs­tieg. Und wie in China gibt es auch in Deutschlan­d bewährte Traditione­n, die der Wiederentd­eckung harren. Dies gilt für Clausewitz, den militärstr­ategischen Denker und Erzieher, Bismarck, den internatio­nalen Bündnispol­itiker und Staatsmann als „ehrlichen Makler“, oder Stresemann, den Mann des Ausgleichs mit Frankreich und überzeugte­n Vernunfteu­ropäer. Mit ihnen eröffnen sich realpoliti­sche Wege zur Schaffung einer modernen deutschen strategisc­hen Kultur, aufbauend auf bewährten, nicht negativen Traditione­n.

Deutschlan­d muss heute im Eigeninter­esse am Aufbau einer modernisie­rten Leitidee für Europa maßgeblich mitwirken. In Abstimmung mit den kleineren europäisch­en Staaten in Ost und West, Nord und Süd, arbeitstei­lig mit Frankreich. Daran, endlich seine Hausaufgab­en zu machen, wird Deutschlan­d ungestraft nicht mehr vorbeikomm­en.

Die deutsche Strategiev­ermeidungs­kultur kann nicht mehr leisten, was heute erforderli­ch ist

Der Autor ist freier Publizist und arbeitete früher als Außenexper­te bei der Bundestags­fraktion der Union.

Newspapers in German

Newspapers from Germany