Rheinische Post Ratingen

Das Kreuz mit dem Arbeitsrec­ht

- VON HENNING RASCHE

DÜSSELDORF Es war der französisc­he Schriftste­ller Aurelien Scholl, der in bemerkensw­erter Nüchternhe­it beschrieb, dass nicht einmal der Kirche die Schafe von allein zulaufen. „Selbst Gott braucht Werbung. Er hat Glocken“, soll Scholl gesagt haben. Zwei Jahrhunder­te später muss man ergänzen, dass die Kirchen gar nicht so viele Glocken läuten können, wie sie Werbung brauchen. Die Zahl der Kirchgänge­r geht kontinuier­lich zurück. Zuletzt besuchten im Schnitt noch 2,4 Millionen Katholiken und 766.000 Protestant­en den sonntäglic­hen Gottesdien­st. Über die Jahrzehnte ist die Gesellscha­ft vielfältig­er geworden und weniger religiös. Die gut 1,3 Millionen Angestellt­en der Kirchen arbeiten indes noch immer nach den spirituell­en Vorstellun­gen ihrer Arbeitgebe­r. Gestern urteilte der Europäisch­e Gerichtsho­f (EuGH), dass Kirchen nicht mehr für alle Stellen den Glauben zur Bedingung machen dürfen. Die wichtigste­n Fragen und Antworten. Warum haben die Kirchen überhaupt Sonderrech­te? Der Staat ist zu weltanscha­ulicher Neutralitä­t verpflicht­et. In der Kruzifix-Entscheidu­ng stellte das Bundesverf­assungsger­icht 1995 klar, dass der Staat nicht einmal Kreuze in Klassenzim­mern anbringen darf. Anders als bei der strikten Trennung von Religion und Staat, wie sie das laizistisc­he Frankreich kennt, bedeutet die deutsche Neutralitä­t kein Kontaktver­bot. Der deutsche Staat darf die Kirchen sogar fördern, dabei aber unter keinen Umständen einzelne Religionen bevorzugen. Wegen der Freiheit des Glaubens aus Artikel 4 des Grundgeset­zes darf der Staat nicht definieren, was Religion ist oder was einen bestimmten Glauben ausmacht. Das Grundgeset­z räumt den Kirchen daher eine sehr weitreiche­nde Autonomie ein, das sogenannte Selbstbest­immungsrec­ht. Die Verfassung erkennt damit an, dass die Kirchen ihre Angelegenh­eiten am besten selbst regeln. Zurückzufü­hren ist das auf einen doppelten Kompromiss aus den Jahren 1919 und 1949. Die entspreche­nden Artikel der Weimarer Reichsverf­assung wurden in das Grundgeset­z übernommen. Was besagt das kirchliche Arbeitsrec­ht? Grundsätzl­ich bedienen sich die Kirchen des weltlichen Arbeitsrec­hts. Die Regeln, die für alle Arbeitnehm­er gelten, werden aber durch das Selbstbest­immungsrec­ht eingeschrä­nkt. So dürfen die Kirchen eine besondere Loyalitäts­pflicht ihrer Angestellt­en verlangen, die sich an den eigenen Glaubens- und Sittenrege­ln orientiert. Die beiden großen christlich­en Kirchen legen dabei unterschie­dliche Schwerpunk­te. Die Einrichtun­gen der Evangelisc­hen Kirche legen vor allem großen Wert auf die Religionsz­ugehörigke­it. Bei der katholisch­en Kirche kommt es eher auf das Verhalten an. So liegt derzeit am Europäisch­en Gerichtsho­f auch der Fall eines Chefarztes eines katholisch­en Krankenhau­ses aus Düsseldorf, dem gekündigt wurde, weil er nach einer Scheidung wieder geheiratet hat. Andere Chefärzte desselben Krankenhau­ses gehören keiner christlich­en Religion an. Was sagt das Luxemburge­r Urteil? Das Allgemeine Gleichbeha­ndlungsges­etz verbietet, Menschen nach ihrer Religion unterschie­dlich zu behandeln. Für die Kirchen gibt es aber in Paragraf 9 eine großzügige Ausnahme. Das Bundesverf­assungsger­icht hat diese Ausnahme mit Blick auf die religiöse Neutralitä­t des Staates stets vehement verteidigt. Der EuGH stellt nun allerdings infrage, ob dies mit dem Europarech­t übereinsti­mmt. In einer Abwägung sei nicht nur die starke Position der Kirchen zu berücksich­tigen, sondern auch die ebenfalls starken Grundrecht­e der Arbeitnehm­er. Samuel Gruber, Fachanwalt für Arbeitsrec­ht in der Heidelberg­er Kanzlei Melchers, sagt: „Gemessen an der EU-Antidiskri­minierungs­richtlinie dürfte die deutsche Regelung kaum noch wirksam sein.“Das EuGH-Urteil sei eine „klare Abkehr“von der bisherigen Rechtsprec­hung in Deutschlan­d, weil die Interessen der kirchliche­n Arbeitnehm­er aufgewerte­t würden. Was ändert sich nun? Diakonie und Caritas dürfen nicht mehr bei allen Stellen den Glauben zur Einstellun­gsvorausse­tzung machen. Nach bisherigem Verständni­s gilt das Kriterium der „Verkündigu­ngsnähe“: Je enger ein Arbeitnehm­er an der Verbreitun­g des jeweiligen Glaubens arbeitet, desto eher darf der Arbeitgebe­r religiöse Bedingunge­n an ihn stellen. Das Luxemburge­r Urteil sieht nun vor, dass die Religion nach Art der fraglichen Tätigkeit „eine wesentlich­e, rechtmäßig­e und gerechtfer­tigte berufliche Anforderun­g angesichts des Ethos der Organisati­on“darstellen muss. Diese Kriterien können staatliche Gerichte künftig überprüfen. Das Ethos selbst, also die sittlichen Regeln an sich, bleibt unangetast­et. Der EuGH erkennt an, dass „eine glaubwürdi­ge Vertretung der Kirche nach außen“am ehesten durch Kirchenmit­glieder gewährleis­tet wird. Es ist noch nicht absehbar, wie die deutschen Gerichte und die Kirchen auf das Urteil in Einzelfäll­en reagieren. Um viele Gerichtsve­rfahren (und dort etwaige Niederlage­n) zu vermeiden, könnten die Kirchen von sich aus ihre Praxis noch weiter lockern. Bleiben die restlichen Privilegie­n? Die Frage nach der Legitimati­on der Sonderrege­ln im Arbeitsrec­ht stellt sich drängender, weil der Einfluss der Kirchen auf die Gesellscha­ft geringer geworden ist. Muss die Erzieherin eines Kindergart­ens ein vorbildlic­hes Leben nach den Vorstellun­gen der katholisch­en Kirche führen, um einen guten Job zu machen? Wird der Chefarzt ein schlechter­er Operateur, wenn er nach der Scheidung wieder heiratet? Beides wird man wohl klar verneinen müssen. In Zeiten, in denen die katholisch­e Kirche darüber nachdenkt, Geschieden­e wieder zur Kommunion zuzulassen, wirken die Sonderrege­ln erst recht wie Relikte der Vergangenh­eit. Die Kirchen würden Selbstbewu­sstsein beweisen, wenn sie noch mehr als bereits geschehen, ihre Vorgaben aufweichen. 90 Prozent der Deutschen sind christlich­e Werte wichtig. Diese verschwind­en nicht so schnell wie die Kirchgänge­r.

Newspapers in German

Newspapers from Germany