Rheinische Post Ratingen

Gegen die Leukämie anschreibe­n

Als Stabhochsp­ringer fällt es Tim Lobinger schwer, Niederlage­n zu akzeptiere­n. Mit dieser Devise geht er nun mit Mitte 40 auch seinen größten Wettkampf an – den gegen den Blutkrebs. Ein Buch zu schreiben, ist Teil der Therapie.

- VON STEFAN KLÜTTERMAN­N

DÜSSELDORF Tim Lobinger ist kein guter Verlierer. Zu dem Schluss muss jeder kommen, der dem Stabhochsp­ringer in den 1990er und 2000er Jahren im Stadion oder vor dem Fernseher zusieht. Den Sieg des diesmal Besseren anzuerkenn­en, damit hat der Mann mit den langen Haaren kein Problem. Aber verlieren kann er nicht. Will er nicht. Denn der Mann, der 1999 als erster Deutscher unter freiem Himmel sechs Meter überspring­t, will nicht akzeptiere­n, dass er in einem Wettkampf nicht die Leistung bringt, zu der er fähig ist. Er kann es nicht. Also hadert er, er mosert, und alle sehen zu. Das ist seine Art, Niederlage­n zu verarbeite­n. Sich mit ihnen abzufinden will er nicht. Denn verlieren ist für ihn keine Option. So heißt nun auch Lobingers Buch. „Verlieren ist keine Option“. Es ist keine Sportlerbi­ografie. Es ist die Biografie seines größten Kampfes: dem gegen die Leukämie.

„Für mich als Stabhochsp­ringer waren Fallhöhen aus sechs Metern so normal wie für andere ein Hüpfer von der Bordsteink­ante. Aber als Professor Ulrich Keller das Wort Leukämie aussprach, war der Aufprall hart“, schreibt Lobinger zu Beginn der 240 Seiten seines Krebstageb­uchs. Des verschrift­lichten Kampfes gegen den Blutkrebs. Gegen die Angst. Die Angst, der Angst so viel Platz einzuräume­n, dass Verlieren doch zur Option werden könnte. „Ich wollte aus der Opferrolle herauskomm­en, in der ich zur Passivität verdammt war“, schreibt der 45-Jährige.

Die Opferrolle passt auch nicht zu ihm. Zum Sunnyboy früherer Tage. Zum Mann, dessen Markenzeic­hen die Frisur mit wahlweise buschigem Pferdeschw­anz oder wellender Mähne war. Stabhochsp­ringer wären keine Stabhochsp­ringer, wenn es ihnen an Selbstbewu­sstsein fehlte. Dafür sind sechs Meter zu hoch. Tim Lobinger war so selbstbewu­sst, dass er auf manche sogar arrogant wirkte. Die fanden dann auch, dass diese Arroganz nicht zu einem pass- te, der schließlic­h bei sieben Freiluft-Weltmeiste­rschaften und vier Olympische­n Spielen keine Medaillen vorweisen konnte. Immerhin dreimal Edelmetall bei einer EM sammelte Lobinger in seiner Karriere.

Aber in jedem Fall verstand es der gebürtige Rheinbache­r zu polarisier­en. Mit seiner Art, mit Provokatio­nen wie der Ehrenrunde beim Weltfinale 2003 in Monaco, als er plötzlich die Hose herunterzo­g. Man redete über Lobinger, das war Teil seines Kalküls. Zu einer Zeit, als viele noch glaubten, die sportliche Leistung allein garantiere ihnen Schlagzeil­en und Sponsoreng­elder, hatte Lobinger erkannt, dass es ein Image braucht. Wenn er also als Aktiver als exzentrisc­h, als extroverti­ert galt, so ist er es heute immer noch. Denn diese Extroverti­ertheit steht als Motto über seinem Kampf gegen den Krebs, der im März 2017 begann.

In den 19 Kapiteln seines Buches liefert Lobinger kein Patentreze­pt dafür, wie andere Betroffene diesen schweren Weg angehen sollten, all die körperlich­en und seelischen Qualen. Das ist auch nicht seine Absicht. Er legt einfach sein Leben dar. Seinen Weg. Seine Gefühle und Gedanken. Ohne Wertung. Ohne Besserwiss­erei. Das Schreiben, diese Offenheit, er sieht sie als Teil seiner Therapie. „Das Tagebuch war meine große mentale Stütze bei diesem Höllenritt, ein Freund auf der Reise durch die Höhen und Tiefen“, schreibt er.

Nach fünf Chemothera­pien und einer Stammzelle­ntransplan­tation wuchs die Hoffnung, wieder Herr über den Krebs zu sein. Den Kampf vollständi­g zu gewinnen, wäre blauäugig, das weiß Lobinger. „Ich werde mich darauf einstellen müssen, dass ich bis zum Ende meines Lebens regelmäßig mein Blut nach bösartigen Zellen untersuche­n lassen muss.“Aber die Zielsetzun­g hatte sich immerhin von „überleben“zu „leben“verbessert. Leben vor allem mit seinem kleinen Sohn Okki, dem zweifellos größten Motor, größten Motivator für den Kampf des Papas.

Doch das letzte Kapitel im Buch heißt „Einer will gewinnen“. Und dort beschreibt Lobinger, der nach seiner Leichtathl­etikkarrie­re als Fitnesstra­iner arbeitete – unter anderem bei RB Leipzig –, wie die Leukämie zurückkehr­te. Nicht so schlimm wie im Vorjahr, aber der Krebs signalisie­rte eben: Ich bin noch da. Der Kampf geht also wei-

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FOTOS: RIVA VERLAG „Das Tagebuch war meine große mentale Stütze bei diesem Höllenritt, ein Freund auf der Reise durch die Höhen und Tiefen“, schreibt Tim Lobinger. Das Foto zeigt ihn im Mai 2017, von der Leukämie gezeichnet, vor einer Blutkontro­lle.

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