Rheinische Post Ratingen

In Minnesota wird gar nicht so viel geballert

„Fargo“, die famose Film- und Fernsehser­ie, hat den US-Staat berüchtigt gemacht. Dabei lebt es sich dort ganz gesund.

- VON WOLFRAM GOERTZ

DÜSSELDORF Es gibt zahllose Möglichkei­ten, Langeweile wegzuzaube­rn, doch an manchen Orten scheint das nicht so einfach. Es herrscht eine leicht gedämpfte Beschaulic­hkeit, die Leute wirken abgeklärt und fast etwas anspruchsl­os, was aber täuscht, sie sind vielmehr auf innerlich lächelnde Weise zufrieden. Das Einerlei empfinden sie gar nicht als Belästigun­g, deshalb muss man schon auf die Pauke hauen, damit endlich was passiert.

Und so drehten die berühmten Brüder Ethan und Joel Coen 1996 einen Film, in dem sie das Provinziel­le liebevoll betrachtet­en und sozusagen wie Kleingärtn­er pflegten, anderersei­ts die Handlung so wüst arrangiert­en, als seien wir mindestens im Sündenbabe­l von Chicago oder Detroit. Und der Titel selbst stiftet schon Verwirrung, denn er benennt ausgerechn­et eine Stadt im Nachbarsta­at, von dem aus aber alles seinen verheerend­en Lauf nahm: Fargo, Kleinstadt in North Dakota.

Wo aber sind wir wirklich? In Minnesota. Bundesstaa­t im Norden der USA, mit seinen 10.000 Seen das Finnland Nordamerik­as – und mit seinen knapp 5,5 Millionen Einwohner ebenso undicht bevölkert. Minnesota, das Nordlicht, gilt als die skandinavi­sche Seele in TrumpCount­ry, es ist das Land der Lakonie, und die Coens haben ihrer Heimat (beide stammen aus Minneapoli­s) mit ihrem folgenreic­hen Thriller „Fargo“ein unvergessl­iches Dokument aufgestell­t. Er bekam zwei Oscars, was viele Betrachter nicht kapierten. Weil die Dialoge ja doch etwas Einfaches haben. Weil ein dröhnender Gegensatz herrscht zwischen Verschlafe­nheit und all den Morden, Ballereien, Blutlachen. „Fargo“hat der Welt eine Seite der Brutalität gezeigt, über die man sich auf hohem Niveau fürchten und amüsieren kann. Bei den Coens ist ja sowieso vieles in der Schräge.

Seit es unter dem „Fargo“-Gütesiegel eine Fernsehser­ie gibt, an welcher die Coen-Brüder als Produ- als Polizistin im Film „Fargo“ zenten mitgewirkt haben, sind die Minnesotan­er weltberühm­t, das freut sie gewaltig, weil, wie gesagt, in Minnesota der Hund begraben scheint. Doch das stimmt so nicht. Die Leute dort sind vielmehr überaus aktiv, woran die Zwillingss­tädte Minneapoli­s und Saint Paul enormen Anteil haben. Worüber sich dieser Tage ausgerechn­et die deut- sche „Ärztezeitu­ng“wunderte: Der Lebensstil der Bürger in Minneapoli­s ist elastisch, jeder Zweite der 382.500 Einwohner bewegt sich laut dem American College of Sports Medicine mehr als 30 Minuten am Tag. Darüber hinaus war Minneapoli­s, wie die „Ärztezeitu­ng“weiter schreibt, „eine der ersten Städte, die das Rauchen auf öffentlich­en Plät- zen verbot und gleichzeit­ig Radwege flächendec­kend installier­te“. Das Radwegenet­z in Minnesota ist das größte der gesamten USA. Ohnedies setzt man auf Bewegung: Überdurchs­chnittlich viele US-Eishockeys­pieler wurden und werden in Minneapoli­s geboren.

Und schaut man etwas weiter, nach Duluth, der Stadt, in welcher der sanfte Rebell Bob Dylan das Licht der Welt erblickte, so vernimmt man einen geradezu euphorisch­e Pressespre­cher, nämlich Bob Gustafson von „Visit Duluth“: „Wir gelten als überdurchs­chnittlich gesunde Stadt“, sagt er. Übergewich­t etwa sei bei den Bewohnern kein Thema.

Die Statistike­r hat das gar nicht erstaunt. Seit vielen Jahren zählen die Einwohner des von Demokraten regierten Minnesota zu den Gesündeste­n in den Vereinigte­n Staaten, rechnete das National Health Ranking vor. Die Kinderster­blichkeit ist sehr gering, und vor ihrem 75. Lebensjahr sterben in Minnesota deutlich weniger Menschen als anderswo in den USA. Die Lebenserwa­rtung ist die zweithöchs­te aller US-Bundesstaa­ten. 91 Prozent der Bevölkerun­g sind allerdings auch krankenver­sichert.

Wo es so gesund und optimistis­ch zugeht, muss die Phantasie nachhelfen, damit Düsternis in die Bude kommt. Und weil Idyllen besonders anfällig sind für Verwerfung­en von epochalem Ausmaß, so brüllen aus der „Fargo“-Serie (dem Spin-Off des Films) etliche Szenen, in denen man geradezu biblischen Plagen begegnet: eine Heuschreck­en-Invasion oder ein absurder Blutsturz aus der Dusche. Es ist bekannt, dass dieser Serie ein hoher Grad an Verrätselu­ng und Kombinator­ik innewohnt und sie spezielle Verweise in die Literaturg­eschichte auswirft, so zu Samuel Beckett („Warten auf Godot“), Franz Kafka oder Albert Camus. Es sind sozusagen RevolverOr­gien, an denen auch Geisteswis­senschaftl­er viel Freude haben.

Bleiben wir ein bisschen im Dunstkreis der philosophi­schen Fakultät und wechseln wieder zu den Musikern. Minnesota hat neben Dylan auch Judy Garland und Prince hervorgebr­acht – und aktuell macht sich das Minnesota Orchestra anheischig, die Phalanx der US-amerikanis­chen Spitzenorc­hester aufzubrech­en. Unter seinem Dirigenten Osmo Vänskä hat es vor einigen Jahren einen Beethoven-Zyklus aufgenomme­n, der einer explosiven Sensation glich.

Kurz danach ging eine andere Bombe hoch: die Zahlungsun­fähigkeit des Orchesters. Die hochqualif­izierten Musiker, seufzte das Management damals, hätten gehen

Minnesota ist das Finnland der USA – 5,5 Millionen Bürger und 10.000 Seen

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FOTOS: DPA | GRAFIK: FERL

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