Das Haus der 20.000 Bücher
Infolgedessen war Descartes im selben Maße wie Spinoza ein Teil der modernen jüdischen Geschichte – oder jedenfalls von Chimens spezieller Auffassung von Geschichte. Chimens Wissbegierde wuchs. Daher versuchte er, praktisch jeden Zweig des jüdischen Denkens und der jüdischen Geschichte zu erforschen. Er besaß mystische, kabbalistische Texte und prächtige Haggadot aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert (teils gedruckt, teils handgeschrieben, die an kunstvoll kalligrafierte Manuskripte aus dem Mittelalter erinnerten); dazu eine Sammlung seltener Dokumente über Schabbtai Zvi, einen Mystiker des 17. Jahrhunderts, der sich von seinen Anhängern für den Messias halten ließ, nur um sie dann schmerzlich zu enttäuschen, nachdem er – unter Androhung des Todes – zum Islam konvertiert war. Zvi war einer der wenigen Juden, welche die Sultane in dieser Zeit gewaltsam zum Übertritt zwangen, und viele Angehörige der rabbinischen Elite zeigten sich geradezu erleichtert angesichts seiner Bekehrung, da sie seit Langem behauptet hatten, er sei ein gefährlicher falscher Messias.
Nach Meinung vieler Historiker könne es an Zvis traumatischer Bekehrung gelegen haben, dass er eine so starke Anziehungskraft auf die Marranen in der Levante ausgeübt habe, jene spanischen und portugiesischen Familien, die unter dem Druck der Inquisition zum Christentum übergetreten waren, sich aber insgeheim einige Aspekte ihres jüdischen Erbes bewahrt hatten. Deshalb hätten sie sich mit Zvis Erniedrigung identifiziert. Spinozas Familie, die vor seiner Geburt nach Amsterdam gezogen war, hatte die- ser Gemeinschaft angehört. Die Kabbala – deren mystische Annahmen Chimen faszinierten, ohne dass sie ihn je überzeugt hätten – vertrat folgende Lehre: Ein allumfassender, unendlicher Gott hatte durch Selbstkontraktion, die einen Hohlraum hervorgebracht habe, das Weltall geschaffen. Mir scheint, dass Chimen versuchte, so viel wie möglich von diesem Vakuum mit Worten zu füllen.
Er besaß eine 1521 in Venedig gedruckte hebräische Bomberg-Bibel – im selben Jahr und am selben Ort war die Tosefta (die Yehezkel sein Leben lang studiert hatte) zum ersten Mal in Druck gegangen. Bloß fünf Jahre zuvor hatte man die Juden der Stadt ohne Umschweife im ersten Ghetto Europas eingesperrt. Diese Bibel zählte zu Chimens wertvollsten Stücken. Daniel Bomberg war einer der großen Neuerer des Druckwesens und schuf atemberaubend schöne Ausgaben der Bibel, des Talmud und anderer Texte. 1992 begutachtete Chimen einen von Bomberg gedruckten Babylonischen Talmud, und die Freude, die er beim Umgang mit den Bänden verspürt hatte, kommt in seiner Einschätzung deutlich zum Vorschein: „Band eins hat unter Feuchtigkeit gelitten, doch davon abgesehen ist der gesamte Talmud in einem sehr guten Zustand, mit breiten Rändern und sehr wenigen Randvermerken. Alle Leerblätter sind erhalten, was für hebräische Bücher höchst ungewöhnlich ist.“Die Seltenheit der Bomberg-Artefakte faszinierte meinen Großvater. „Vollständige Ausgaben des Talmud, sei es im Erst-, Zweit- oder Drittdruck, sind nur in begrenzter Zahl vorhanden. Auf der ganzen Welt gibt es vielleicht ein Dutzend oder fünfzehn Ausgaben.“Chimens eigene Bomberg-Bibel war keine der berühmtesten Editionen, die 1524 und 1525 veröffentlicht wurden und Essays des Herausgebers, eines Tunesiers namens Jacob ben Chajim ben Jitzak ibn Adonijah, ausführliche Kommentare sowohl von Raschi als auch von Abraham ibn Eschra sowie prächtige Holzschnitte enthielten. Die Stege waren perfekt ausgerichtet, und an manchen Stellen zog sich der hebräische Kommentar spiralförmig um einen Vers herum. Chimens Bomberg-Bibel, obwohl nicht ähnlich hochkarätig, war dennoch etwas ganz Besonderes. Zwar waren erst fünfundsiebzig Jahre vergangen, seit Gutenberg seine Druckerpressen in Gang gesetzt hatte, doch wirkte sie wie ein Wunderwerk der technischen Möglichkeiten – geradezu eine Stradivari des Druckwesens. Bomberg war Gutenberg weit voraus, was Stil und Technik, Satzspiegel und bildliche Darstellungen betraf, vergleichbar etwa der Stellung des iPod gegenüber VinylSchallplatten. Wenige Jahrzehnte nach den ersten Versuchen war der Buchdruck ausgereift und erstrahlte in voller Pracht. Chimen besaß noch eine andere hebräische Bibel aus Venedig. Sie war 1621 entstanden und damit nur rund ein Jahrhundert älter als die Bomberg. Außerdem gehörte ihm eine Thora-Schriftrolle aus Prag, die man 1610 hergestellt hatte. Und irgendwo auf den Regalen befanden sich Überreste einer noch älteren Thora aus dem Jahre 1557. Auf seinen Expeditionen in die Welt der alten Bücher hatte mein Großvater unter anderem hebräische Texte erworben, die man im frühen 16. Jahrhundert in Konstantinopel gedruckt hatte. Einer stammte von dem größten Rabbiner, der im 16. Jahrhundert in der Stadt lebte: dem Talmud-Gelehrten, Mathematiker und Euklid-Experten Elia Misrachi. Dessen Buch Sefer ha-Mispar (Buch der Zahl) wurde 1532, sechs Jahre nach Misrachis Tod, von seinem dritten Sohn Israel veröffentlicht; es war eine der ersten weltlichen naturwissenschaftlichen Arbeiten, die auf Hebräisch herauskamen. Chimen besaß noch einen weiteren Band aus der oströmischen Kaiserstadt, der zehn Jahre zuvor erschienen war – die Erinnerung an die Eroberung Konstantinopels durch die Heere Sultan Mehmeds II. im Jahre 1453 war noch lebendig. Verblüffenderweise entstand der hebräische Buchdruck in der künftigen osmanischen Hauptstadt, mehrere Jahrhunderte bevor islamische Drucker Fuß fassten: 1493 hatten die beiden portugiesischen Brüder David und Samuel Nahmias ihre Druckerei gegründet. In den folgenden Jahrzehnten veröffentlichten sie über hundert Bücher in Kleinstauflagen von maximal dreihundert Exemplaren. Viele waren von sephardischen Juden verfasst worden, die vor der spanischen Inquisition nach Osten geflohen waren. „Ohne die Inquisition“, meint Paul Hamburg, Bibliothekar der Judaica Collection an der University of California in Berkeley, „wäre Spanien zum Zentrum des jüdischen Buchdrucks in Europa geworden. Dass es dazu nicht kam, lag daran, dass man die Juden 1492 aus Spanien vertrieb.“Chimens rabbinische Vorfahren mütterlicherseits, erzählte er mir einmal, hätten zu denen gehört, die aus dem zunehmend intoleranten Spanien nach Osten entkommen seien. (Fortsetzung folgt)