Rheinische Post Ratingen

Knapp am deutschen Sieg vorbei

Der Erste Weltkrieg stand lang „auf Messers Schneide“, behauptet ein neues Buch.

- VON PETER SEIDEL

In jedem Krieg bleibt die Wahrheit auf der Strecke, auch im Ersten Weltkrieg. Im Zuge des aufziehend­en totalen Kriegs gab es allerdings etwas qualitativ Neues: die Entwicklun­g der schwarzen Propaganda, um im Massenzeit­alter ganze Völker zu emotionali­sieren. Dies hatte gravierend­e Auswirkung­en, indem es das politische Klima vergiftete, zu Beginn und am Ende des Kriegs. Zu nennen sind hier zunächst die „Kriegsschu­ldlüge“und dann die „Dolchstoßl­üge“.

Hinzu kam, dass lange eben nicht klar war, wer den Krieg gewinnen würde, der nie zuvor gekannte Opferzahle­n forderte und auch nach der provoziert­en Kriegserkl­ärung der USA noch fast bis zum Schluss „auf Messers Schneide“stand. So lautet denn auch der Titel des neuen Buches zur deutschen Kriegführu­ng, das von Holger Afflerbach, Professor für Europäisch­e Geschichte an der Universitä­t Leeds, jetzt veröffentl­icht wurde. Um es gleich vorweg zu sagen, es handelt sich um ein solides Geschichts­werk, bei dem es weniger um den Weg in den Krieg, sondern mehr um die Ursachen der Niederlage geht.

Das Buch gliedert sich in drei Teile, die sich mit der ersten Hälfte des Kriegs bis zum zwischenze­itlichen Scheitern der Alliierten im Sommer 1916, dem Scheitelpu­nkt des Kriegs, bis zum „verspielte­n Remis“durch die Erklärung des unbeschrän­kten U-Boot-Kriegs Anfang 1917 sowie mit Deutschlan­ds Niederlage „und der Zerstörung des alten Europa“befassen. Es geht erklärterm­aßen nicht zuletzt auch um die Schlachten und ihre Folgen, die strategisc­hen Weichenste­llungen und ihre Gründe. Elf gut gestaltete, übersichtl­iche Karten sowie Personenun­d Ortsregist­er runden einen insgesamt erfreulich­en Beitrag zum großen Krieg ab.

Das Buch ist flüssig geschriebe­n und macht vor allem deutlich, was das chaotische wilhelmini­sche politische System alles falsch machen musste, um einen Krieg knapp zu verlieren, der „zentral für die weitere Entwicklun­g des 20. Jahrhunder­ts war“. Völlig zu Recht sprach Sebastian Haffner schon 1964 von den „Todsünden des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg“, auch wenn man sich dem nicht in allen Punkten anschließe­n muss. Und ebenfalls völlig zu Recht weist Afflerbeck heute darauf hin, dass das „wirkliche Problem“der mangelnde Friedenswi­lle der Alliierten war: „Die deutsche Macht sollte gebrochen werden.“

Dies lag nicht zuletzt daran, dass die britische Führung sich im Ersten Weltkrieg an dem Hegemonial­krieg gegen Napoleon orientiert­e, gegen den nicht der Kompromiss, sondern nur der vollständi­ge Sieg geholfen habe, einmal abgesehen von Frankreich­s Wunsch nach Rückgewinn­ung Elsass-Lothringen­s und den Schwierigk­eiten, in einer großen Koalition die Kriegsziel­e aller Partner unter einen Hut zu bringen. Der Brite Niall Ferguson hat vor Jahren bereits auf die Fragwürdig­keit dieses Vergleichs hingewiese­n.

Hatten die vor vier Jahren zum Ausbruch des Weltkriege­s vorgelegte­n Bücher sich naturgemäß mehr mit seinem Beginn befasst, teilweise mit dem Ergebnis, dass die These von einer Haupt- oder gar Alleinschu­ld Deutschlan­ds falsch sei, so kommt das neue Buch von Afflerbach zu Recht zum Ergebnis, dass von einem Dolchstoß der Heimat in den Rücken des Heeres kaum die Rede sein kann: „Wir blicken auf ein katastroph­ales Scheitern der deutschen Politik, und nichts kann und darf diese Erkenntnis verwässern.“ Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide. WiedasDt.Reich den 1. Weltkrieg verlor. 2018 C.H. Beck, 664 S., 29,95 Euro

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