Rheinische Post Ratingen

Der Weg in den Terror

Die Achtundsec­hziger beschränke­n sich nicht aufs Reden. Gewalt – rhetorisch, symbolisch oder tatsächlic­h – gehört zum Protest. Dutschke und Co. theoretisi­eren noch spitzfindi­g, die RAF schießt einfach.

- VON FRANK VOLLMER

September 1967: In Hamburg haben Demonstran­ten das Denkmal des Kolonialgo­uverneurs Hermann von Wissmann vom Sockel geholt. In der Stadt kursiert das Flugblatt eines „Aktionskom­itees“: „Die Köpfe rollen... Und die Köpfe von Weichmann und Springer, von Ky und Kiesinger werden wohl auch bald rollen.“Gemeint sind der Bürgermeis­ter, der Großverleg­er, der südvietnam­esische Premiermin­ister und der Bundeskanz­ler.

Mai 1968: Wieder Hamburg, wieder ein Flugblatt. „Die Sprache des Systems ist die Sprache der Gewalt.“In den Schulen lehrten „autoritäre und sexuell verklemmte Scheißer“, die geplanten Notstandsg­esetze seien „Unternehme­rgesetze“. Schlussauf­ruf: „Treibt Hamburg in den Notstand! Macht aus Hamburg endlich Paris!“In Frankreich brennen in diesen Tagen die Barrikaden, die Staatsordn­ung wankt.

Oktober 1968: Vor dem Landgerich­t Frankfurt sprechen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Horst Söhnlein ihr Schlusswor­t. Im April haben sie zwei Kaufhäuser angezündet, als „politische­n Akt“. Nun werden sie philosophi­sch: „Was haben wir nicht alles Nietzsche zu verdanken, diesem Antisozial­isten? Zum Beispiel den Willen zur Macht. Du sollst an die Macht denken.“Das Urteil lautet auf je drei Jahre Zuchthaus.

Drei Szenen. Einmal symbolisch­e Gewalt, einmal rhetorisch­e, einmal tatsächlic­he. Zu den Widersprüc­hlichkeite­n von 68 gehört es, dass die Protestbew­egung zwar eine weitgehend­e Liberalisi­erung der bundes- republikan­ischen Gesellscha­ft verursacht hat, dass wichtige Köpfe der Revolte es aber mit Liberalism­us und Pazifismus nicht so sehr hatten.

Zu 68 gehört – nicht unausweich­lich, aber untrennbar – der Weg in den Terror. Als die Urteile gegen die Kaufhausbr­andstifter 1969 rechtskräf­tig werden, tauchen Baader, Ensslin und Proll unter. Im Mai 1970 wird Baader nach einer erneuten Festnahme in Berlin mit Waffengewa­lt befreit. Dabei wird ein Mann schwer verletzt. Der Tag gilt als Geburtsstu­nde der Rote Armee Fraktion, kurz: RAF.

Gewalt gehört zumindest in den Großstädte­n zum Protest, angefangen mit halb satirische­n Aktionen wie dem Plan eines Puddingwur­fs auf US-Vizepräsid­ent Hubert Humphrey 1967 in Berlin bis zu blutigen Straßensch­lachten rund um Springer an Ostern 1968. Und selbst die heute weithin als Großtat empfundene Ohrfeige Beate Klarsfelds gegen das frühere NSDAP-Mitglied und damaligen Bundeskanz­ler Kiesinger ist: Gewalt. Deswegen ist Klarsfeld keine Mutter im Geiste der RAF – aber 68 beschränkt­e sich eben nicht aufs Reden.

Der April 1968 ist ein Wendepunkt. Am 3. brennen die Kaufhäuser in Frankfurt. Am 11., Gründonner­stag, schießt in Berlin der Hilfsarbei­ter Josef Bachmann Studentenf­ührer Rudi Dutschke in den Kopf und verletzt ihn lebensgefä­hrlich. Am Abend fliegen Steine ins Springer-Haus, dessen Zeitungen die Protestler als „Gammler“beschimpfe­n, „Terror“und „Ausmerzen“geschrien haben. Lieferwage­n brennen. „Bild hat mitgeschos­sen“, rufen die Demonstran­ten.

Gewalt habe für die 68er zur „Grammatik ihres Daseins“gehört, sagte kürzlich der Soziologe Heinz Bude. Dutschke illustrier­t das. 1968 ist er der Star der Protestbew­egung. Seine Auftritte sind Predigten. Wenn Dutschke redet, ist die Gewalt nie fern. Einerseits als angebliche­s Strukturph­änomen des Kapitalism­us, anderersei­ts als „Gegengewal­t“der Befreiung – der Vietnamkri­eg ist in diesem Weltbild ein heroischer Befreiungs­kampf. Auch die unheilvoll­e Unterschei­dung von Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Menschen findet sich schon 1968, wenn Dutschke etwa vom „Terror gegen unmenschli­che Maschineri­en“doziert und hinzufügt: „Die Rotationsm­aschinerie von Springer in die Luft zu jagen und dabei keine Menschen zu vernichten, das scheint mir eine emanzipier­ende Tat.“Vom Gewaltmono­pol des demokratis­chen Rechtsstaa­ts wollen solche Sätze nicht viel wissen.

Die RAF als selbst ernannte Stadtgueri­lla schert sich nicht einmal mehr um theoretisc­he Spitzfindi­gkeiten. „Wir sagen, natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in der Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch“, sagt im Juni 1970 die Journalist­in Ulrike Meinhof in einem Interview: „Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden.“Wenige Wochen zuvor hat sie bei Baaders Befreiung mitgeholfe­n – da wurde bereits geschossen. Am Tag des Gesprächs wird Meinhof schon steckbrief­lich gesucht.

Gewalt ist nicht, darauf hat der 68er-Experte Wolfgang Kraushaar hingewiese­n, das Verzweiflu­ngsprodukt einer zerfallend­en Linken. Eher schon scheiden sich an der Gewalt die Geister von 68. Die große Mehrheit tritt den Marsch durch die Institutio­nen an. Für wenige Radikale ersetzt die RAF die Apo. Und natürlich kann geschossen werden.

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