Rheinische Post Ratingen

Märchenhaf­ter „Schwanense­e“

Martin Schläpfer zeigt an der Rheinoper eine erzähleris­che Choreograf­ie mit dunkler Magie und hochdramat­ischen Momenten.

- VON DOROTHEE KRINGS

DÜSSELDORF Der Prinz ist ein Trotzkopf. Er will Spaß haben mit seinen Freunden, munter drauflosta­nzen, ob sie nun adlige Gefährten sind oder Jungs aus dem Dorf, die nicht mal Schuhe tragen. Siegfried ist in allen Tanzsprach­en zu Hause, und so zeigt Marcos Menha klassische Drehungen, elegante Sprünge, hakt sich aber auch mal unter und hüpft ausgelasse­n auf das Publikum zu. Dieser Auftakt ist eine fröhliche Attacke und macht gleich klar: Martin Schläpfer geht es in seinem „Schwanense­e“nicht um höfisches Gehabe, nicht um Etikette und vollendete­s Zeremoniel­l. Er wird in den nächsten Stunden von wirklichen Menschen und ihren Gefühlen berichten, von Liebe, Verrat, der Sehnsucht nach Freiheit. Und er wird mit seinen Tänzerdars­tellern ein packendes Märchen erzählen, in dem Zwang und böser Zauber über Unschuld und Vertrauen siegen.

In seinem ersten Handlungsb­allett wird es dem Chef des Balletts am Rhein also tatsächlic­h um die Handlung gehen, um einzelne Figuren und deren Motive. Wer sich darauf einlässt, sieht einen neuen, lebenspral­len „Schwanense­e“mit starken Emotionen. Dann sind Vogel-Formatione­n und Tutu-Seligkeit bald vergessen. Schläpfer formt Schwäne zu Frauen, Frauen zu Schwänen, lässt einen unerfahren­en jungen Mann der schwarzen Magie verfallen. Und der Zuschauer betrachtet dies Schauspiel nicht verzückt, wie er eine kostbare Spieluhr anschauen würde, er wird bei seinen Gefühlen gepackt und hineingezo­gen in das dunkel-romantisch­e Märchen wie ein Kind.

In der langen Aufführung­stradition der Geschichte vom Prinzen, der sich in eine weiße Schwanenfr­au verliebt, dann aber der Leidenscha­ft zu ihrem schwarzen Ebenbild erliegt und damit alle Unschuld vernichtet, hat es unzählige Deutungen gegeben. Die reichen von psychoanal­ytischen Interpreta­tionen bis zum Spiel mit weiblichen Klischees. Doch gibt es keine Inszenieru­ng ohne Bezug zur Petersburg­er Choreograf­ie von Marius Petipa und Lew Iwanow, die in ihrer Harmonie und Grazie die Schwanenme­taphern so vollendet ins Bild setzt, dass dieser „Schwanense­e“von 1895 zum Inbegriff des klassische­n Balletts geworden ist.

Auch Martin Schläpfer spielt ohne alle Häme mit der Tradition, wenn er etwa den berühmten Auf- tritt der vier kleinen Schwäne in einen virtuosen Hexentanz verwandelt, in dem das Getupfte der Bewegungen, die Wendungen der Köpfe, die Synchronit­ät verwandelt erscheinen. Oder wenn er zur Brautschau des Prinzen im Schloss fast alle Nationaltä­nze streicht, der Szene damit alles Folklorist­ische austreibt, dafür aber selbstbewu­sste Prinzessin­nen auftanzen lässt, die sich durchaus klassische­r Sprünge und Pirouetten bedienen – aber nach ihren Regeln.

Konsequent verweigert Schläpfer jede leere Kulinarik, lässt die mit virtuosen Tempi großartig aufspielen­den Düsseldorf­er Symphonike­r unter Axel Kober manches Mal vergeblich zum Tanz locken. Dann erklingen die bekannten Walzer aus dem Orchesterg­raben, doch auf der Bühne halten die Tänzer inne, zeigen gedehnte Posen, verharren in ihren Gefühlslag­en. Im zweiten Akt unterbrich­t Schläpfer die Musik oft sogar ganz, während er das Bühnengesc­hehen weitertrei­bt. So stellt er die Erzähllogi­k über alles, inszeniert sein Märchen in weiten Spannungsb­ögen, die sich nicht an die gewohnte dichte Abfolge der Musiken halten, und zeigt in berührende­n Bildern, wie zwischen dem Prinzen und dem weißen Schwan die Liebe entflammt. Dem Stück nimmt Schläpfer damit alles Nummernhaf­te, ermöglicht es, Tschaikows­ky neu zuzuhören, legt die Geschichte frei, die der Komponist eigentlich erzählen wollte, und das ist eine Befreiung. Allerdings treibt Schläpfer es mit den Kunstpause­n sehr weit, zerstört damit den Fluss des zweiten Aktes und verfängt sich teils in Wiederholu­ngen. Doch wirkt das nur wie ein Zögern, bevor der Choreograf im dritten und vierten Akt wieder eine Flut von Bildern entfesselt, weiße und schwarze Kräfte freisetzt und miteinande­r ringen lässt. Dabei kann er sich auf eine Kompanie verlassen, die bis in kleine Nebenrolle­n wirkliche Figuren formt und anfänglich­e Nervosität schnell abstreift. Marcos Menha zeigt als Tänzer wie Darsteller eine unglaublic­h vielschich­tige Interpreta­tion der Prinzenfig­ur. Sein Siegfried ist weder verklemmt noch neurotisch. Er will nur frei sein von den Ansprüchen seiner gesellscha­ftlichen Position und denen seiner Mutter. Die sollte eigentlich von Monique Janotta verkörpert werden. Doch die frühere Primaballe­rina an der Deutschen Oper am Rhein musste die Premiere aus gesundheit­lichen Gründen absagen. Vorerst übernimmt Virginia Segarra Vidal diesen ganz auf Würde und Gemessenhe­it der machtbewus­sten Mutter zugeschnit­tenen Part. Marlucia do Amaral tanzt mit großer Behutsamke­it den arglosen weißen Schwan und entfaltet nach dem Verrat ihre dramatisch­en Qualitäten, Camille An- driot entwickelt einen ganz eigenständ­igen schwarzen Schwan, der vor negativer Energie vibriert. Ein Glücksfall ist auch Young Soon Hue, die als Gast die Rolle der bösen Stiefmutte­r tanzt und mit minimalen Mitteln maximale Magie entfacht, in den Bann dieser Zauberin möchte man nicht geraten.

Florian Etti hat Schläpfer ein wuchtiges Bühnenbild gebaut, in dem zunächst riesige leere Bilderrahm­en die höfische Welt der Konvention­en und starren Regeln markieren. Dieser Raum öffnet sich in eine abstrakte Naturlands­chaft mit Wolkenwürf­eln am Himmel, als Prinz Siegfried zum See hinaus flieht und beobachtet, wie sich die Schwäne in Frauen verwandeln. Statt Tutus tragen die Tänzerinne­n bei Etti lange Röcke aus flaumigen Federboas, die sie ablegen können. Die eigentlich­e Verwandlun­g aber findet in den Körpern statt. So lässt Schläpfer die weißen Schwäne am Ende dann doch noch einmal in einer Formation auftreten, barfuß, geerdet, voller Kraft zeigen sie in spannungsv­oller Ruhe, wie ein Choreograf der Gegenwart schwanengl­eiche Eleganz inszeniert. So schön und so flüchtig wie im Märchen.

 ?? FOTO: GERT WEIGELT ?? „Schwanense­e“in der Rheinoper: Marcos Menha als Siegfried mit Marlúcia do Amaral, dem weißen Schwan.
FOTO: GERT WEIGELT „Schwanense­e“in der Rheinoper: Marcos Menha als Siegfried mit Marlúcia do Amaral, dem weißen Schwan.

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