Märchenhafter „Schwanensee“
Martin Schläpfer zeigt an der Rheinoper eine erzählerische Choreografie mit dunkler Magie und hochdramatischen Momenten.
DÜSSELDORF Der Prinz ist ein Trotzkopf. Er will Spaß haben mit seinen Freunden, munter drauflostanzen, ob sie nun adlige Gefährten sind oder Jungs aus dem Dorf, die nicht mal Schuhe tragen. Siegfried ist in allen Tanzsprachen zu Hause, und so zeigt Marcos Menha klassische Drehungen, elegante Sprünge, hakt sich aber auch mal unter und hüpft ausgelassen auf das Publikum zu. Dieser Auftakt ist eine fröhliche Attacke und macht gleich klar: Martin Schläpfer geht es in seinem „Schwanensee“nicht um höfisches Gehabe, nicht um Etikette und vollendetes Zeremoniell. Er wird in den nächsten Stunden von wirklichen Menschen und ihren Gefühlen berichten, von Liebe, Verrat, der Sehnsucht nach Freiheit. Und er wird mit seinen Tänzerdarstellern ein packendes Märchen erzählen, in dem Zwang und böser Zauber über Unschuld und Vertrauen siegen.
In seinem ersten Handlungsballett wird es dem Chef des Balletts am Rhein also tatsächlich um die Handlung gehen, um einzelne Figuren und deren Motive. Wer sich darauf einlässt, sieht einen neuen, lebensprallen „Schwanensee“mit starken Emotionen. Dann sind Vogel-Formationen und Tutu-Seligkeit bald vergessen. Schläpfer formt Schwäne zu Frauen, Frauen zu Schwänen, lässt einen unerfahrenen jungen Mann der schwarzen Magie verfallen. Und der Zuschauer betrachtet dies Schauspiel nicht verzückt, wie er eine kostbare Spieluhr anschauen würde, er wird bei seinen Gefühlen gepackt und hineingezogen in das dunkel-romantische Märchen wie ein Kind.
In der langen Aufführungstradition der Geschichte vom Prinzen, der sich in eine weiße Schwanenfrau verliebt, dann aber der Leidenschaft zu ihrem schwarzen Ebenbild erliegt und damit alle Unschuld vernichtet, hat es unzählige Deutungen gegeben. Die reichen von psychoanalytischen Interpretationen bis zum Spiel mit weiblichen Klischees. Doch gibt es keine Inszenierung ohne Bezug zur Petersburger Choreografie von Marius Petipa und Lew Iwanow, die in ihrer Harmonie und Grazie die Schwanenmetaphern so vollendet ins Bild setzt, dass dieser „Schwanensee“von 1895 zum Inbegriff des klassischen Balletts geworden ist.
Auch Martin Schläpfer spielt ohne alle Häme mit der Tradition, wenn er etwa den berühmten Auf- tritt der vier kleinen Schwäne in einen virtuosen Hexentanz verwandelt, in dem das Getupfte der Bewegungen, die Wendungen der Köpfe, die Synchronität verwandelt erscheinen. Oder wenn er zur Brautschau des Prinzen im Schloss fast alle Nationaltänze streicht, der Szene damit alles Folkloristische austreibt, dafür aber selbstbewusste Prinzessinnen auftanzen lässt, die sich durchaus klassischer Sprünge und Pirouetten bedienen – aber nach ihren Regeln.
Konsequent verweigert Schläpfer jede leere Kulinarik, lässt die mit virtuosen Tempi großartig aufspielenden Düsseldorfer Symphoniker unter Axel Kober manches Mal vergeblich zum Tanz locken. Dann erklingen die bekannten Walzer aus dem Orchestergraben, doch auf der Bühne halten die Tänzer inne, zeigen gedehnte Posen, verharren in ihren Gefühlslagen. Im zweiten Akt unterbricht Schläpfer die Musik oft sogar ganz, während er das Bühnengeschehen weitertreibt. So stellt er die Erzähllogik über alles, inszeniert sein Märchen in weiten Spannungsbögen, die sich nicht an die gewohnte dichte Abfolge der Musiken halten, und zeigt in berührenden Bildern, wie zwischen dem Prinzen und dem weißen Schwan die Liebe entflammt. Dem Stück nimmt Schläpfer damit alles Nummernhafte, ermöglicht es, Tschaikowsky neu zuzuhören, legt die Geschichte frei, die der Komponist eigentlich erzählen wollte, und das ist eine Befreiung. Allerdings treibt Schläpfer es mit den Kunstpausen sehr weit, zerstört damit den Fluss des zweiten Aktes und verfängt sich teils in Wiederholungen. Doch wirkt das nur wie ein Zögern, bevor der Choreograf im dritten und vierten Akt wieder eine Flut von Bildern entfesselt, weiße und schwarze Kräfte freisetzt und miteinander ringen lässt. Dabei kann er sich auf eine Kompanie verlassen, die bis in kleine Nebenrollen wirkliche Figuren formt und anfängliche Nervosität schnell abstreift. Marcos Menha zeigt als Tänzer wie Darsteller eine unglaublich vielschichtige Interpretation der Prinzenfigur. Sein Siegfried ist weder verklemmt noch neurotisch. Er will nur frei sein von den Ansprüchen seiner gesellschaftlichen Position und denen seiner Mutter. Die sollte eigentlich von Monique Janotta verkörpert werden. Doch die frühere Primaballerina an der Deutschen Oper am Rhein musste die Premiere aus gesundheitlichen Gründen absagen. Vorerst übernimmt Virginia Segarra Vidal diesen ganz auf Würde und Gemessenheit der machtbewussten Mutter zugeschnittenen Part. Marlucia do Amaral tanzt mit großer Behutsamkeit den arglosen weißen Schwan und entfaltet nach dem Verrat ihre dramatischen Qualitäten, Camille An- driot entwickelt einen ganz eigenständigen schwarzen Schwan, der vor negativer Energie vibriert. Ein Glücksfall ist auch Young Soon Hue, die als Gast die Rolle der bösen Stiefmutter tanzt und mit minimalen Mitteln maximale Magie entfacht, in den Bann dieser Zauberin möchte man nicht geraten.
Florian Etti hat Schläpfer ein wuchtiges Bühnenbild gebaut, in dem zunächst riesige leere Bilderrahmen die höfische Welt der Konventionen und starren Regeln markieren. Dieser Raum öffnet sich in eine abstrakte Naturlandschaft mit Wolkenwürfeln am Himmel, als Prinz Siegfried zum See hinaus flieht und beobachtet, wie sich die Schwäne in Frauen verwandeln. Statt Tutus tragen die Tänzerinnen bei Etti lange Röcke aus flaumigen Federboas, die sie ablegen können. Die eigentliche Verwandlung aber findet in den Körpern statt. So lässt Schläpfer die weißen Schwäne am Ende dann doch noch einmal in einer Formation auftreten, barfuß, geerdet, voller Kraft zeigen sie in spannungsvoller Ruhe, wie ein Choreograf der Gegenwart schwanengleiche Eleganz inszeniert. So schön und so flüchtig wie im Märchen.