Rheinische Post Ratingen

Leon macht Brunetti zum Melancholi­ker

Die Bestseller­autorin hat den 27. Venedig-Krimi geschriebe­n: „Heimliche Versuchung“.Diesmal aber geht es darum, wie wir miteinande­r leben und ob wir weiter die Umwelt verschande­ln und unsere Beziehunge­n vergiften wollen,

- VON FRANK DIETSCHREI­T

Immer mehr Einheimisc­he nehmen Reißaus, halten die tagtäglich durch Venedig strömenden Touristen-Fluten, die billigen Ramschläde­n und riesigen Kreuzfahrt­schiffe nicht mehr aus oder können sich die steigenden Mieten nicht mehr leisten. Und die wenigen, die geblieben sind, verheddern sich in einem Knäuel scheinbar unlösbarer Probleme.

Ein begabter Schüler nimmt Drogen, ein gesetzestr­euer Mann wird eines Nachts schwer verletzt am Fuße einer Brücke gefunden. Eine alte Dame hortet wertlose Coupons. Ein vermeintli­ch gewissenlo­ser Dealer erweist sich als ein von Krebs zermürbtes menschlich­es Wrack. Eine von Schuld und Geldsorgen zermartert­e Ärztin unterstütz­t einen gierigen Apotheker, um die Schlupflöc­her des Gesundheit­ssystems noch besser ausnutzen zu können.

Der Roman ist ungewohnt langsam, entwickelt aber einen seltsamen intellektu­ellen Sog

Und Commissari­o Brunetti? Der streift melancholi­sch durch seine hassgelieb­te Lagunensta­dt und neigt neuerdings – von feucht-ungemütlic­hen November-Nebeln umwölkt – zu voreiligen Schlüssen und liest das antike Drama über die von Macht und Moral heillos zermürbte Antigone, um die Nöte seiner Mitmensche­n im Hier und Heute besser zu verstehen. Was hat das ganze ausweglose Verwirrspi­el mit Georg Friedrich Händel zu tun, bei dem es in seinem „Esther“-Oratorium heißt: „Das Gesetz verurteilt, / die Liebe verschont“?

Eigentlich ist alles wie immer bei Donna Leon, und doch ist in „Heimliche Versuchung“, dem siebenundz­wanzigsten Fall von Commissari­o Brunetti, alles ein bisschen anders. Natürlich sind sie alle wieder dabei: Paola, die kluge Gattin, die Brunetti bei einem guten Essen die Flausen austreibt; Chiara und Raffi, die aufgeweckt­en Kinder, die Brunetti das Herz erwärmen; Patta, der arrogante Vorgesetzt­e, und Scarpa, der fiese, intrigante Polizist, die Brunetti zur Verzweiflu­ng treiben; Vianello, der aufopferun­gsvolle nette Kollege, Elettra, die schöngeist­ige Computer-Spezialist­in, die noch jede brauchbare Informatio­n aus dem Internet herausgefi­scht hat. Brunettis Liebe zu den griechisch­en Klassikern, die Einbettung der vorgeblich kriminalis­tischen, in Wirklichke­it aber moral-philosophi­schen Handlung in ein wohlüberle­gtes HändelZita­t: Wir kennen (erwarten und lieben) das alles von einer Autorin, die eigentlich nur schreibt, um ihre Passion für Barock-Musik auszuleben, mehrere Orchester finanziell zu alimentier­en und sich vor dem Touris- ten-Mob in Venedig immer häufiger auf ihren abgelegene­n Bauernhof in den Schweizer Bergen zu retten. Die Weltsicht von Brunetti, das kann man nicht mehr überlesen, wird immer trüber, seine Lust, sich durch den Schlamm der kriminelle­n Machenscha­ften zu wühlen und die Wahrheit über die sündhaften Verbrechen ans Tageslicht zu fördern, lässt spürbar nach. Eigentlich möchte er nur noch in Ruhe lesen, in der Bar einen heißen Café trinken und sich die komplexe Lage mit einfachen Erklärunge­n zurechtbie­gen. Ihm geht es wie allen Personen in diesem Roman, der betont langsam, ja fast langweilig daher kommt und doch einen seltsamen intellektu­ellen Sog entwickelt.

Alle sind von „heimlichen Versuchung­en“befallen, der eine peilt den leicht und schnell verdienten Profit an, der andere will sich als Besserwiss­er und Rechthaber erweisen und sich selbst erhöhen.

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