Rheinische Post Ratingen

„Sexuelle Gewalt – reden wir darüber!“

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Die jüngsten BKA-Zahlen alarmieren: Täglich werden in Deutschlan­d fast 50 Kinder misshandel­t, auch sexuell (plus Dunkelziff­er). „Sag’s e.V.“aus Langenfeld setzt sich für den Schutz von Kindern und Jugendlich­en ein, und dafür, dass diese Hilfe erhalten – so mit einer Ausstellun­g, die gestern starte.

Auf den ausgestell­ten Fotos halten sich Bettine-von-Arnim-Gesamtschü­ler unter anderem den Mund zu. Dabei heißt Ihr Verein doch „Sag’s“. Ist das nicht widersinni­g?

BRAUSER Das scheint nur so. Die Ausstellun­g spielt auf die drei Affen an: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Das Sprechen über den Themenbere­ich Sexuelle Gewalt ist immer noch ein Tabu. Kinder und Jugendlich­e, die sexuelle Gewalt erleben, sind – obwohl das Thema in der Öffentlich­keit mehr diskutiert wird – in der Regel mit dem Erlebten immer noch allein und finden nur schwer Menschen, denen sie vertrauen können, die ihnen wirklich zuhören, ihnen glauben und sich für ihre Belange einsetzen. Der Titel der Ausstellun­g – „Nichts sagen, nichts hören, nichts sehen? Doch, Sag’s!“betont gerade mit dem letzten Teil, dass Betroffene sich Hilfe holen dürfen und zum Beispiel zu unserer Beratungss­telle kommen können. Zudem ruft die Ausstellun­g dazu auf, generell über das Thema sexuelle Gewalt zu sprechen.

Wie wichtig ist Ihrem Verein die Zusammenar­beit mit Schulen?

BRAUSER Sehr wichtig. Sie wird seit vielen Jahren gepflegt. Sie ermöglicht eine kontinuier­liche, altersents­prechende Arbeit zum Themenfeld Sexuelle Gewalt. 2017 waren 24 Klassen aus sieben verschiede­nen Monheimer und Langenfeld­er Grundschul­en an unserem Mutmach-Projekt beteiligt. Neben der Arbeit zum Körperselb­stbestimmu­ngsrecht steht dabei das spielerisc­he Kennenlern­en unserer Beratungss­telle im Vordergrun­d. Darüber hinaus besteht eine enge Kooperatio­n mit weiterführ­enden Schulen, besonders mit den drei Gesamtschu­len in Langenfeld und Monheim. So wird innerhalb der jährlichen Themen- und Projekttag­e mit den Jugendlich­en der sechsten Jahrgänge zum Thema gearbeitet. Etwaige Schwellenä­ngste, die einer Inanspruch­nahme unserer Beratungss­telle entgegenst­ehen würden, können so abgebaut werden.

Gehen Sie auch schon in Kindergärt­en?

BRAUSER Unsere Arbeit in den Kitas umfasst vor allem die Fortund Weiterbild­ung von Erzieherin­nen sowie Informatio­nsveransta­ltungen für Eltern. Ziel ist es, möglichst viele direkte Bezugspers­onen hinsichtli­ch des Themas zu informiere­n und zu sensibilis­ieren.

Wie viele Kinder und Jugendlich­e suchen bei Ihnen im Jahresdurc­hschnitt Rat?

NAU Im Durchschni­tt suchen jährlich etwa 100 Kinder und Jugendlich­e in der Beratungss­telle Hilfe. Bei den meisten Betroffene­n werden eine oder mehrere Bezugspers­onen in der gleichen Größenordn­ung ebenfalls von uns beraten. Für alle Ratsuchend­en ist es ein schwerer Schritt, sich an Sag‘s e.V. zu wenden. Einige betroffene Jugendlich­e schaffen es dennoch, sich ganz alleine bei uns zu melden.

Warum ist das so schwer?

NAU Selbst Bezugspers­onen, die die Kinder und Jugendlich­en gut kennen, unterschät­zen zum Teil, wie schwer es für Betroffene ist, sich ohne Unterstütz­ung an unsere Beratungss­telle zu wenden. Daher möchten wir auch an dieser Stelle darauf hinweisen, wie wichtig eine Begleitung mindestens zum ersten Termin für die Kinder und Jugendlich­en ist. Selbstmeld­er sind daher nur eine kleine Gruppe der Ratsuchend­en. Weitaus häufiger sind es Mütter, Institutio­nen und das Jugendamt, die den Erstkontak­t herstellen. Daher möchten wir besonders auch die Gruppe der möglichen Selbstmeld­er mit unserer Ausstellun­g erreichen und sie ermutigen, über das Erlebte zu sprechen. NAU Auch in der Beratungss­telle melden sich mehr Mädchen als Jungen. Allerdings fällt es Jungen auch nach wie vor aufgrund der immer noch geschlecht­sspezifisc­hen Erziehung schwerer, von erlebten sexuellen Übergriffe­n zu sprechen und Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Und das Alter – gibt es da einen Schwerpunk­t bei den Fallzahlen?

NAU In den allgemeine­n Zahlen findet man, dass die gefährdets­te Gruppe im Kindergart­en- und Grundschul­alter zu finden ist. Bei uns kommt ein Teil der Betroffene­n offensicht­lich erst später an, das heißt ab dem Jugendlich­enalter.

Wie sieht es auf der anderen Seite aus: Gibt es den typischen Täter?

BRAUSER Täter und auch Täterinnen sind außer durch die Tatsache, dass sie Kinder zu sexueller Gewalt zwingen, nicht von anderen Männern und Frauen zu unterschei­den. Generell findet sexuelle Gewalt meistens im sozialen Nahraum der Kinder und Jugendlich­en – Väter/Väterersat­zpersonen, männliche Verwandte oder Bekannte – statt, so dass sie genau dort, wo sie eigentlich den größten Schutz erfahren sollten, am gefährdets­ten sind.

Mit welchen Spektrum an Übergriffe­n haben Sie es zu tun?

NAU Für unsere Arbeit ist eine juristisch­e Einteilung in leichtere oder schwerere Fälle nicht hilfreich. Wir sehen jedes Kind und jeden Jugendlich­en mit ihren individuel­len Erlebnisse­n als Hilfesuche­nde, für die wir Ansprechpa­rtnerinnen sein wollen. In der Beratungss­telle kommen Ratsuchend­e mit allen denkbaren und auch undenkbare­n Erlebnisse­n sexueller Gewalt an.

Den Verein „Sag’s“gibt es jetzt seit 27 Jahren. Das BKA sieht im Internet einen Treibsatz für sexuelle Gewalt gegen Kinder. Gibt es auch etwas, das sich seit 1991 zum Positiven gewandelt hat?

BRAUSER Das Thema wird mehr thematisie­rt. Die Menschen wissen, dass sexuelle Gewalt häufig passiert, was lange Zeit eher geleugnet wurde. Mehr Menschen wissen – auch wenn es ihnen schwer fällt, das zu glauben –, dass sexuelle Gewalt vor allem aus dem sozialen Umfeld der Opfer ausgeübt wird. Die Akzeptanz unserer Beratungss­telle ist gestiegen. Heute heißt es: „Gut, dass es euch gibt“. Für Ratsuchend­e ist der Weg zu uns jedoch immer noch schwer. So bedarf es Ausstellun­gen wie die bevorstehe­nde, um klar zu machen: Ihr dürft darüber reden und euch Hilfe holen! DIE FRAGEN STELLTE THOMAS GUTMANN.

 ?? FOTO: SCHULE/SAGS E.V. ?? Wie die drei Affen? Auch bei sexueller Gewalt lässt Gleichgült­igkeit die Opfer im Stich. Mit einer Foto-Ausstellun­g wollen Bettine-von-Arnim-Gesamtschü­ler und Sag’s e.V. wachrüttel­n.
FOTO: SCHULE/SAGS E.V. Wie die drei Affen? Auch bei sexueller Gewalt lässt Gleichgült­igkeit die Opfer im Stich. Mit einer Foto-Ausstellun­g wollen Bettine-von-Arnim-Gesamtschü­ler und Sag’s e.V. wachrüttel­n.
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FOTOS: VEREIN Beraten bei Sag’s e.V.: Eva Nau (r.) und Doris Brauser.
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