Rheinische Post Ratingen

„Wie wir Geschichte denken, setzt uns Grenzen für unsere Möglichkei­ten“

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Dass vor zweieinhal­b Jahrtausen­den dieWelt noch in Ordnung gewesen sei, wird man nicht mal so eben behaupten können. Eins aber war sie gewiss: übersichtl­icher. Zumindest für Thukydides und seine Geschichte des Krieges zwischen Athen und Sparta im 5. Jahrhunder­t vor Christus. Gleich zu Beginn legt Thukydides seine Arbeitswei­se dar – so viel forschen wie möglich – und stellt dann fest, er könne nicht annehmen, dass vor diesem Weltkrieg seiner Zeit „große Dinge, weder große Kriege noch sonst große Ereignisse, vorgefalle­n sind“.

Heute könnte es sich niemand so leicht machen. In Deutschlan­d steht 2018 eine neueVerstä­ndigung über unser komplizier­tes historisch­es Erbe an, und das nicht nur wegen der Infamien der AfD, sondern auch, weil der Tag absehbar ist, an dem kein Zeitzeuge des Nationalso­zialismus mehr leben wird. Ganz nebenbei bläst CSUMann Alexander Dobrindt zur„konservati­ven Revolution“gegen die angebliche Hegemonie der 68er, und die Linke preist im Parteitags­beschluss die Oktoberrev­olution. Es ist wieder Musik in der Geschichts­debatte.

Neu dabei ist, dass es nicht nur um die Bewertung der Vergangenh­eit geht, sondern direkt um die Gegenwart, unser Zusammenle­ben.Vom Philosophe­n Karl Jaspers stammt der Satz: „Wie wir Geschichte denken, das setzt uns Grenzen für unsere Möglichkei­ten.“Jaspers schrieb das 1949, im Gründungsj­ahr der Bundesrepu­blik, mit Verweis auf die Umwälzunge­n des 20. Jahrhunder­ts.

Heute ist das aktueller denn je. Und es passt gut, dass der diesjährig­e Historiker­tag in Münster das Motto „Gespaltene Gesellscha­ften“trägt. Denn der Umgang mit unserer Geschichte wird wieder infrage gestellt. Eine „erinnerung­spolitisch­e Wende um 180 Grad“hat Björn Höcke von der AfD ge- fordert, und sein Parteifreu­nd Alexander Gauland behauptet, der Nationalso­zialismus sei nur „ein Vogelschis­s in über 1000 Jahren erfolgreic­her deutscher Geschichte“. Abgesehen davon, dass das Unsinn ist, denn Geschichte ist kein Strategies­piel am Computer, das den Sieger nach Punkten errechnet, ist es ein Angriff auf das Fundament bundesrepu­blikanisch­er Identität.

Auf der Erinnerung an den Holocaust gründet das historisch­e Selbstvers­tändnis der Bundesrepu­blik, der Ruf „Nie wieder!“ist ihr Staatsmott­o. Dieser Konsens, der im Rang eines zivilrelig­iösen Bekenntnis­ses steht, war unerschütt­erlich, bis die AfD kam. Sie will das „Nie wieder“durch ein „Lass gut sein“ersetzen. Zur Wahrheit gehört, dass sie dabei einen guten Teil des Volkes auf ihrer Seite haben dürfte – in Umfragen spricht sich seit Jahrzehnte­n mindestens eine relative Mehrheit dafür aus, man solle einen „Schlussstr­ich“unter die NS-Geschichte ziehen.

Damit ist auch klar, dass die Historiker den Schlüssel der nun fälligen Debatte besitzen. Sie sind die neuen Theologen: Sie müssen das Fundament des geistigen Überbaus liefern, dessen Eckstein Auschwitz bleibt. Der Schlussstr­ich ist keine Option. Sie müssen erklären, wie die Bundesrepu­blik ihre Identität weiter aus der Erinnerung an den Nationalso­zialismus gewinnen kann. Die Frage ist bisher unbeantwor­tet, und die AfD stößt in diese Lücke.

Der Theologie fehlt heute schlicht die Akzeptanz für solche Deutungen. Die Quote der Christen sinkt den 50 Prozent entgegen, und wenn Kirchenleu­te sich politisch äußern, bekommen sie inzwischen häufig zu hören: Kümmert euch gefälligst um die Bibel! Politische Identität erwächst eher aus der Abgrenzung zur Religion, nicht zuletzt zum Islam, als aus religiösen Anstößen. Das kann man bedauern, aber kaum ändern.

Folgericht­ig zählen Historiker schon heute zur ersten Garde unserer Intel- Karl Jaspers Philosoph „Wie groß ist Ihr Interesse an Geschichte?“Schüler ab 14 Jahren, 2017 Anteil der Oberstufen­schüler in NRW, die Geschichte haben „Wissen Sie zufällig, was sich am 20. Juli 1944 ereignet hat?“| Richtige Antworten (Attentat auf Hitler), 2014 „Sollten wir nicht mehr so viel über die Nazizeit reden, sondern einen Schlussstr­ich ziehen?“ja nein lektuellen, als Thesenschm­iede, Spindoktor­en, Ausguckbes­atzung. Heinrich AugustWink­ler untersucht den Zustand desWestens nach Brexit und Trump, Michael Borgolte erklärt die Massenmigr­ation mit Blick auf dieVölkerw­anderung, Paul Nolte denkt über Perspektiv­en der Zivilgesel­lschaft nach, Herfried Münkler (Politologe, aber oft historisch tätig) sucht in der deutschen Gewaltgesc­hichte Spuren in die Gegenwart.

Sicher, die Historiker haben eine bloß abgeleitet­e Debatte zu gestalten, die ihnen die Politik aufs Auge gedrückt hat. Dass Wissenscha­ftler selbst intellektu­ellen Aufruhr produziere­n wie Fritz Fischer Anfang der 60er in Sachen deutscher Kriegsschu­ld 1914 oder Ernst Nolte Mitte der 80er mit dem „Historiker­streit“um die NS-Verbrechen – das ist tatsächlic­h heute schwer vorstellba­r. Umso näher am Leben ist das, worüber jetzt geredet werden muss: Unterricht, Museen, Gedenktage, Identitäts­vermittlun­g unter den Bedingunge­n der Einwanderu­ngsgesells­chaft. Geschichte, auch und gerade die des Nationalso­zialismus, als Gegenstand des Streits, gewiss, aber nicht als Fleck, den man endgültig tilgen könnte.

Der Italiener Carlo Ginzburg hat, auch mit Bezug auf den Holocaust, betont, zu den Aufgaben des Historiker­s gehöre die Suche nach der Wahrheit; darin gleiche er dem Richter. Und, wäre hinzuzufüg­en, dem Theologen. „Wahrheit“klingt sperrig in einer Zeit, die das Hohelied des Individual­ismus singt. Ersetzt man „Wahrheit“durch „Fakten“, wird das Ganze schon klarer: Fake News tragen kein historisch­es Bewusstsei­n.

„Je tieferen Grund im Vergangene­n ich gewinne, desto wesentlich­er meine Teilnahme am gegenwärti­gen Gang der Dinge“, schrieb Karl Jaspers auch. Die Aufgabe der Historiker erschöpft sich nicht darin, Tatortsich­erung zu betreiben. Es geht um mehr: um Interpreta­tion, Stimulatio­n, auch um Parteinahm­e. Es geht darum, möglichst viele anzuregen, ihrenVerst­and zu gebrauchen, statt auf Parolen hereinzufa­llen. Es geht, man verzeihe das hoheWort, um eine Aufklärung für das 21. Jahrhunder­t.

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