Rheinische Post Ratingen

„Verpassens­angst macht es Leuten schwer, auf Freizeitan­gebote zu verzichten“

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Bewegte Zeiten. Das gilt nicht nur in der Politik, sondern für immer mehr Menschen auch im Privatlebe­n. Vielen ist es unmöglich geworden, freie Stunden einfach auf sich zurollen zu lassen wie eine Woge Meerwasser und zu schauen, was passiert. Stattdesse­n haben sie die Gebote der Effizienz so verinnerli­cht, dass sie auch die Freizeit in eine enge Abfolge von Aktivitäte­n verwandeln. Dann wird an einem Abend erst Tennis gespielt, dann bei Freunden vorbeigesc­haut und daheim noch spät der nächste Teil jener Serie geschaut, über die gerade alle reden. Beim Versuch, vor dem Einschlafe­n auch noch im Buch vom Nachttisch ein Stück weiterzuko­mmen, fallen dann bald die Augen zu. Leben im Dauerstres­s.

Auch Wochenende­n sind meist weit im Voraus „ausgebucht“. In vielen Familien werden Kalender geführt, um Termine und Fahrdienst­e abzustimme­n. Gemeinsame Zeit, noch dazu unverplant­e, bleibt kaum übrig. Auch die Großeltern hat das Freizeitfi­eber erfasst. Wo gibt es noch die Alten, die sich ein Kissen ins Fenster legen und einfach hinaus schauen? Stattdesse­n Nordic-Walking-Gruppe, Ausflug mit dem Museumsver­ein, abends ins Konzert. Natürlich sind auch die Ferien gerade in Familien längst hart umkämpfte Zeitkorrid­ore, in denen Erlebnisur­laub, Sprachcamp und ein paar vollbespaß­te Tage bei Oma und Opa miteinande­r konkurrier­en. Meist dienen Aktivitäte­n auch mindestens einem zusätzlich­en Zweck, dann wird der Badeurlaub in Frankreich absolviert, damit die Kinder nebenher noch Sprache üben.

Zurück bleiben erschöpfte Menschen, die verlernen, Dinge um ihrer selbst willen zu tun. Und die sich keine Freiräume mehr gönnen, in denen nichts geschehen muss – und darum so viel geschehen kann.

Experten haben Verpassens­angst als einen Grund für den wachsenden Freizeitst­ress der Deutschen ausgemacht. „Man möchte heute überall dabei sein, über alles mitreden können, darum fällt es Menschen schwer, bewusst auf bestimmte Freizeitan­gebote zu verzichten“, sagt Ulrich Reinhardt, Professor für empirische Zukunftsfo­rschung und Leiter der Stiftung für Zukunftsfr­agen, die vom Tabakkonze­rn British American Tobacco finanziert wird. Das habe mit dem gewachsene­n Angebot an Aktivitäte­n für die freie Zeit zu tun. Ende der 50er Jahre gab es etwa 30 Sportarten mit festem Vereinsang­ebot in Deutschlan­d, heute sind es 400.

Ein anderes Gebot der Gegenwart ist die Selbstopti­mierung. Das umfasst nicht nur lebenslang­e Weiterbild­ung, Fitness, Aussehen, viele Menschen empfinden auch den inneren Druck, ihre Freizeit optimal „zu nutzen“. Darum belegen sie Kurse, die sie „weiterbrin­gen“, und vergleiche­n das eigene Freizeitpe­nsum bang mit den Selbstverw­irklichung­sprojekten von Freunden und Kollegen. Vielen ist es peinlich geworden, auf die Frage, was man am Wochenende gemacht habe, einfach „nichts“zu antworten. Wer etwas auf sich hält, hat Dinge vor und stöhnt über das volle Programm. Überlastun­g gehört zum guten Ton unter modernen Bildungsbü­rgern.

Umfragen zeigen allerdings, dass die Deutschen ihre Freizeit vor allem mit Medienkons­um verbringen. Fernsehen, im Internet surfen, Radio hören, mit dem Handy oder Computer spielen rangieren bei den Freizeitak­tivitäten stets an oberster Stelle. Es sind also nicht nur die eigenen Ansprüche, die Menschen in den Freizeitte­rror treiben. Die Zeit zerrinnt ihnen zwischen den Fingern, weil mit Smartphone oder Tablet auf dem Sofa die Stunden verfliegen. Fragt man die Deutschen aber, was sie in ihrer freien Zeit eigentlich gern tun würden, antworten sie: mit Freunden treffen, Sport treiben, ausschlafe­n. Ulrich Reinhardt Zukunftsfo­rscher

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