Rheinische Post Ratingen

„Übersetzen bedeutet, das Fremde ähnlich zu machen“

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Das sagt sich dann ja immer so leicht, wenn der Preis vergeben ist. Dass die Autorin den Nerv der Zeit getroffen habe und ihre Wahl darum die richtige zur richtigen Zeit sei. Bei Terezia Mora und dem ihr gestern zuerkannte­n Georg-Büchner-Preis mag das nun wirklich stimmen. Doch bleibt auch zu bedenken, dass ihr bisheriges Hauptwerk, „Das Ungeheuer“schon vor fünf Jahren erschienen ist und die 47-Jährige selbst zu den meistgekür­ten Schriftste­llern hierzuland­e zählt: Ihre fünf Prosawerke sind mit 20 Preisen dekoriert worden, darunter der Bremer Literaturp­reis, der Ingeborg-Bachmann-Preis sowie 2013 der Deutsche Buchpreis.

Komischerw­eise ist ihreWahl dennoch eine Überraschu­ng. Kaum jemand hatte sie auf der Rechnung, vielleicht auch deshalb, weil Mora eben nicht zu den lautesten Trommlerin­nen ihrer Zunft gehört und sie außerdem auf vielen literarisc­hen Feldern ihr Wesen treibt: als Essayistin und Drehbuchau­torin, vor allem aber als Übersetzer­in. „Vor allem“deshalb, weil im Übersetzen sich bei ihr Leben und Schreiben und Denken überschnei­den.

Die im ungarische­n Sopron geborene Autorin ist zweisprach­ig aufgewachs­en, wechselte also permanent vom Ungarische­n ins Deutsche und führte so gesehen von Geburt an ein Doppellebe­n. Das Übersetzen hat sie darum eine Grundlage ihres Lebens genannt, und es sei eine Art Friedensar­beit. Denn es bedeute, „das Fremde ähnlich zu machen“. Erst dann würde echte Kommunikat­ion möglich. Wie wahr zu jeder Zeit und wie geboten gerade in diesen Tagen!

Wem die Überwindun­g von Sprachbarr­ieren so sehr zur Existenz gehört, der wird davon auch in seinen Büchern nicht davon lassen können. Und so gibt es kaum ein Prosawerk, in dem nicht ein Übersetzer eine größere oder kleinere Rolle spielt. Immer geht es bei der Sprache auch um Identität und um die Frage nach der sogenannte­n Mutterspra­che. Die Antwort ist bei Terezia Mora vielleicht ein wenig klarer geworden, nachdem sie als 19-Jährige das sprachgemi­schte Grenzland verließ, nach Berlin ging und dort Theaterwis­senschafte­n und Hungarolog­ie zu studieren begann. Doch verschwund­en ist ihre Grenzerfah­rung nie. „Das Ungeheuer“dokumentie­rt das sogar auf den ersten Blick. Denn jede der fast 700 Seiten ist typographi­sch zweigeteil­t: Oben wird die Geschichte des einsamen IT-Experten Darius Kopp erzählt, unter dem Strich wird das Tagebuch seiner geliebten Frau – die Selbstmord begann – abgedruckt. Allerdings in deutscher Übersetzun­g; Flora hatte die Eintragung­en auf Ungarisch geschriebe­n. Ihre Mutterspra­che wurde so zum Geheimhalt­ungscode. Für Darius ist das mindestens ein Vertrauens­bruch, ein Fremdgehen in der Sprache.Was für ihn nach der Übersetzun­g dann im Tagebuch entgegentr­itt, ist eine Flora, deren Lebensverz­weiflung größer und größer wurde, bis ihr das Leben seltsam und dieWelt fremd wurden; und bis ihre Einsamkeit nicht mehr zu retten war.

Ungeheuerl­ich ist dieses Buch, in dem der überlebend­e Liebende mit der Asche seiner Frau nach Ungarn aufbricht und ihre Geschichte dort zu erkunden sucht. Aber wie zum Teufel soll man dieses Buch eigentlich lesen? Erst alles oben, dann alles unten? Oder auf jeder Seite oben und gleich danach unten? Die ungewöhnli­che und nicht ganz risikolose „Splitscree­n-Technik“führt vor Augen, was es heißt, wenn Lebensgesc­hichten miteinande­r verwoben Terezia Mora Schriftste­llerin sind und das eine Leben neben dem anderen gelebt wird.

Eine Gebrauchsa­nweisung gibt es nicht, weder für die Romanlektü­re noch für das Leben. Und vielleicht muss man sich auch gar nicht entscheide­n, sondern sich nur auf Moras Geschichte einlassen – auf unterschie­dliche Wahrheiten des Lebens, unterschie­dliche Versionen von Wirklichke­it. Einfach macht es Terezia Mora dem Leser zwar nicht, das aber ist noch nie das vorrangigs­te Ziel von Literatur gewesen.

Ungeheuerl­ich ist dieses nicht zu vergleiche­nde Sprachkuns­twerk auch in der Beziehung von Figur und Autorin. So teilt die gestorbene Romanheldi­n nicht nur ihre ungarische Herkunft mit der Autorin, sondern auch ihren Beruf und sogar das Geburtsjah­r. Und wer genau hinschaut, findet auch in den Initialen eine Übereinsti­mmung. Flora Meier hieß eigentlich Teodora. Der Selbstmord ist nicht das Ende der Geschichte, er ist der Anfang von etwas Neuem. Ausgerechn­et Darius, der sich eine Existenz ausschließ­lich in den eigenen vier Wänden ganz gut vorstellen kann, setzt sich nach Floras Tod in Bewegung. Mit der Pappurne macht er sich auf den Weg, begibt sich auf die Suche, setzt sich der Welt aus. Für viele ist das ein Abenteuer; für einen wie Darius ist es eine Lebensrevo­lution – hat er doch bis dahin immer nur Pizza bestellt,„immer von demselben Lieferante­n und immer stur die Speisekart­e herunter“.

„Das Ungeheuer“ist bislang das zentraleWe­rk von Terezia Mora, das in eine Trilogie eingebette­t ist. Dem Buch war 2009 „Der einzige Mann auf dem Kontinent“vorausgega­ngen. Zuletzt erschien ein Band mit Erzählunge­n, dessen Titel bereits das Fremdsein zum Leitmotiv erhebt: „Die Liebe unter Aliens“. Es ist in diesem Band viel von kleinen und großen Utopien, kleinen und größeren Enttäuschu­ngen die Rede. Miniaturen bloß, die aber allesamt das Leben und seine Entwürfe umkreisen. Vielleicht ist Terezia Mora darum zu jeder Zeit die richtige Preisträge­rin – und besonders in Georg Büchners großem Namen.

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