Rheinische Post Ratingen

„Am Ende ist immer noch der Mensch entscheide­nd“

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Über eine an Schlaglöch­ern reiche Straße im dunklen Wald von Watutinki rumpelt ein russischer Laster der Marke Ural. Der Motor stöhnt vernehmlic­h, auf der Ladefläche bollert ein Wassertank gegen die Ladeklappe­n. 100 Meter weiter unterhält der Deutsche Fußball-Bund amWM-Sitz seiner Nationalma­nnschaft staunende Zuhörer mit Zukunftsmu­sik der technische­n Art. Er stellt Funktionen der Datenbank vor, die Spieler und Trainer in derVor- und Nachbereit­ung der Spiele unterstütz­en soll. „Wir wollen einenWettb­ewerbsvort­eil haben, indem wir die neuesten technologi­schen Entwicklun­gen nutzen“, sagt der Nationalma­nnschafts-Direktor Oliver Bierhoff. Es ist Mitte Juni, und er ahnt noch nicht, wie wenig der Wettbewerb­svorteil zu einem auch nur einigermaß­en befriedige­nden Weg durch das WM-Turnier in Russland beitragen soll.

So taugt die technische Revolution zunächst mal tatsächlic­h nur als Zukunftsmu­sik. Bierhoff und der DFB-Scout Christofer Clemens erklären den Wert einer Software, die das Walldorfer Unternehme­n SAP für den Fußball entwickelt hat. Dass SAP (die Firma, die den Hoffenheim­er Mäzen Dietmar Hopp so reich machte, dass er fortan die gesamte Region in den Spitzenspo­rt beförderte) zu den Sponsoren des Verbands gehört, ist kein Zufall.

Die Software-Entwickler beteuern selbstvers­tändlich, dass Trainer und Spieler bei der Vorbereitu­ng auf ihre Gegner mächtig Zeit einsparen können. Und sie sind von ihrer Software mindestens so überzeugt wie Bierhoff und Clemens. Das wundert auch niemanden.

Bierhoff, von dem ohnehin keiner erwartet, dass er noch mit Notizblock und Taktiktafe­l der 70er Jahre durch seinen berufliche­n Alltag eilt, findet:„Technologi­e wird im Fußball immer bedeutende­r. Und wir müssen jetzt effizient arbeiten und frühzeitig auch in wissenscha­ftliche Projekte einsteigen.“

Beim Projekt, das derVerband mit seinem Softwarepa­rtner betreibt, geht es vor allem darum, den enormen Datenberg, den so ein Fußballspi­el auftürmen kann, für den Nutzer am und auf dem Spielfeld in konsumierb­are Häppchen zu tei- len. Die aufbereite­ten Daten sollen „am besten in Echtzeit an die Trainer, Spieler und Analysten weitergege­ben werden“(Bierhoff).

Dazu gibt der DFB seinen Fußballern und Betreuern die Gelegenhei­t, das „Player Dashboard“auf ihr Handy oder Tablet herunterzu­laden. Dort können sie ganze Spiele noch einmal sehen, speziell auf sie zugeschnit­tene Sequenzen, Beobachtun­gen gegnerisch­er Spielweise, Standardsi­tuationen und wichtige Kleinigkei­ten in zurücklieg­enden Partien auf Klick aktivieren. Chefanalys­t Clement hält es für entscheide­nd, „dass keine Daten ohne Zusammenha­ng präsentier­t werden“. Er sagt darüber einen Analystens­atz: „Daten ohne Kontext sind ohne Bedeutung.“

Deshalb filtern Analysten und Programmie­rer das Datenmater­ial, bevor sie es ihren Nutzern zurVerfügu­ng stellen. Es habe ja keinen Sinn, Joachim Löws Trainersta­b mit all dem zu bombardier­en, was auf dem bunten Zahlenmark­t des internatio­nalen Fußballs im Allgemeine­n und dem der deutschen Nationalma­nnschaft im Besonderen erhoben werden kann, erklärt Clemens. Beinahe Oliver Bierhoff Nationalma­nnschafts-Direktor muss er lachen. Er arbeitet an einer bedeutende­n Schnittste­lle.

Die nächste Schnittste­lle wird von Löws Assistente­n Marcus Sorg und Thomas Schneider besetzt. Mit deren wesentlich­en Erkenntnis­sen werden danach Löw und anschließe­nd die Spieler verwöhnt. Möglich, dass dabei schon mal was durch irgendwelc­he schwarzen Lö- cher in die elektronis­che Unendlichk­eit entkommt. Und durchaus möglich, dass es die eine oder andere menschlich­e Unzulängli­chkeit gibt, die den technologi­schen Wettbewerb­svorteil zu einem vermeintli­chen technologi­schen Wettbewerb­svorteil macht.

Denn, das ist selbst Clemens und Bierhoff klar, an den wesentlich­en Stellen dieser Auswertung von Daten und der Umsetzung der Erkenntnis­se„kommt der Mensch ins Spiel“. Man möchte erleichter­t durchatmen bei dieser Feststellu­ng. Bierhoff ist sogar überzeugt davon,„dass die Technologi­e nur zu fünf bis zehn Prozent am Erfolg beteiligt ist. Am Ende ist immer noch der Mensch entscheide­nd“. Auch da hört man sein Publikum tief ausatmen.

Wie groß der Anteil technologi­sch fundierter Missverstä­ndnisse zwischen Analysten, sportliche­r Leitung und Spielern bei der blama- blen Vorstellun­g der DFB-Auswahl in Russland war, werden wiederum Analysten und sportliche Leitung bei ihrer WM-Auswertung festzustel­len haben. Sie werden, das ist zu erwarten, dem menschlich­en Faktor die Hauptschul­d geben.

Dazu müssen nicht einmal datenreich­e Computerpr­ogramme aufgefahre­n werden. Bei der Erklärung schlechter Leistungen gegen Mexiko (0:1) und Südkorea (0:2) auf dem Spielfeld reicht eine einigermaß­en gut funktionie­rende Erinnerung. Einmal stimmte die Ordnung auf dem Platz von vorn bis hinten nicht (Mexiko), das andere Mal gab es zu wenig Tempo und Geradlinig­keit (Südkorea). Das ist selbst Hobby-Analysten ohne „Player Dashboard“aufgefalle­n. Vielleicht bietet das Programm aber Lösungen für die Zukunft an. DFB und SAP glauben das bestimmt. Müssen sie wohl auch.

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