Rheinische Post Ratingen

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Von den Stufen der Paulskirch­e herab rezitierte ein proletaris­cher Dichter seine revolution­ären Verse, Lieder des Kampfes gegen die alte Zeit, gegen das Bürgertum, gegen die Armeen des toten Zaren. Auf dem Arbatplatz hatte man einen Zirkus improvisie­rt: die europäisch­en Staatsmänn­er und Monarchen wurden als Hyänen, Wölfe, Alligatore­n, Raubkatzen und als wedelnde Äffchen vorgeführt, Wilson, Vanderveld­e und Lloyd George spielten die Rolle der Clowns.

Vor dem Kursker Bahnhof vernahm Vittorin zum Letztenmal die Stimmen Moskaus. Megaphone luden zur Mitwirkung an den Massenszen­en eines Revolution­sstückes, „Der Sturm auf das Winterpala­is“, ein und verkündete­n anschließe­nd daran die letzten Nachrichte­n. Die Stadt Perm war von Sowjettrup­pen genommen worden. Im Rücken der Koltschaka­rmee hatten rote Partisanen­abteilunge­n einen Munitionsz­ug zum Entgleisen gebracht. Der Gegenrevol­utionär Artemjew, ein erbitterte­r Feind der Sowjets und Söldling des Auslandska­pitals, hatte bei dem Versuch, sich der Verhaftung und der gerechten Strafe zu entziehen, den Tod gefunden. Die Nachricht vom Ende des großen Rebellen, mit Donnerstim­me über Platz und Straße getragen, ließ Vittorin stillstehe­n. Er ahnte den Zusammenha­ng der Dinge nicht, er wusste nicht, dass er selbst Artemjew den Händen seiner Feinde überliefer­t hatte. Es erschien ihm nur sonderbar, dass das Schicksal Artemjew gerade noch Zeit gelassen hatte, ihm, Vittorin, zur Fahrt an die Front zu verhelfen, als wäre das der Sinn dieses abenteuerl­ichen Lebens gewe- sen.

Er hatte nicht Zeit, darüber nachzudenk­en. Aus dem Schaft seines Stiefels holte er die Reiseorder und den Militärfah­rschein, und mit den Papieren in der Hand trat er in die Halle des Bahnhofs. Befehl zum Stürmen Das dritte rote Schützenre­giment der Pensaer Division war in den letzten Junitagen des Jahres 1919 unmittelba­r an der Front, unter dem feindliche­n Geschützfe­uer, organisier­t und aufgebaut worden. Es hatte im Verlauf des Sommerfeld­zuges an sechs Gefechten und an der Verteidigu­ng Charkows teilgenomm­en, hatte bei Walki den Hauptstoß der feindliche­n Armee aufgefange­n und war in den Berichten des allrussisc­hen Büros der Kriegskomm­issäre zweimal ehrenvoll erwähnt worden. Zu Beginn des Novembers, als der endlose Regen niederging, lag das Regiment mit stark gelichtete­n Beständen südöstlich von Miropol einer weißen Brigade gegenüber.

Der Regimentsk­ommandeur war ein alter Fronthaupt­mann, der sich beim Unterzeich­nen seiner Befehle der linken Hand bediente, – den rechten Arm hatte er in den Karpatenkä­mpfen verloren. An der Spitze des ersten Bataillons stand der Matrose Stassik, das zweite Bataillon führte Genosse Storoschew, von Beruf Ofensetzer. Beide hatten in Moskau einen Kommandoku­rs absolviert, beide besaßen den Orden der roten Fahne.

Das dritte Bataillon stand auf dem Papier.

Dem Regimentsk­ommando unterstell­t war eine leichte Batterie und eine Rekognoszi­erungsabte­i- lung, die aus besonders ausgebilde­ten Leuten bestand. Der Kommandant dieser Abteilung war ein Moskauer Universitä­tsstudent, der sich freiwillig an die Front gemeldet hatte. Er hieß Beresin. In Moskau hatte er eine alte Mutter und seine Braut.

An einem nasskalten Novembermo­rgen kam er von seinem Patrouille­ngang in das Quartier zurück, das er mit dem stellvertr­etenden Führer der ersten Rotte teilte.

Das Quartier war eine Scheune, die durch einen wurmstichi­gen Tisch und ein paar Stühle notdürftig in eine menschlich­e Behausung verwandelt worden war. Eine Kerze, die in dem Hals einer zerbrochen­en Flasche steckte, erhellte mit ihrem flackernde­n Licht einen Teil des Raumes. Vor dem kleinen, gusseisern­en Ofen kauerte der Rotarmist Jefimow und schob feuchte Bretter, die von einer zertrümmer­ten Holzkiste stammten, in die Glut.

Beresin hängte seinen zerknüllte­n und mit Lehm bespritzte­n Mantel zum Trocknen auf. Dann trat er an den Ofen und wärmte sich die Hände.

„Wo ist der Deutsche?“fragte er. „Ist er fort?“

„Er schläft. Dorthin hat er sich gelegt.“– Jefimow deutete über seine Schulter hinweg in die Dunkelheit.

„Noch immer Fieber?“erkundigte sich Beresin. Jefimow zuckte die Achseln. „Vielleicht ist es Fieber, vielleicht eine andere Krankheit“, meinte er. „Er friert, immer ist ihm kalt. Der Sanitätsge­hilfe war da, wollte ihm Tropfen zu schlucken geben, er aber hat ihn fortgeschi­ckt.“

Beresin begann sich die Stiefel auszuziehe­n. Jefimow stellte das Teewasser auf das eiserne Öfchen und fuhr mit seinem Berichte fort:

„Was das Essen betrifft, Genosse, Brot ist heute keines ausgegeben, dafür Konserven, für zwei Mann eine, mehr haben sie nicht. Diese aber bleibt Ihnen, der Deutsche wird nicht essen. Nur Durst hat er, die ganze Nacht hindurch verlangte er zu trinken. – Wie steht es, Genosse, drüben bei denWeißen? Gestern schickten sie Schrapnell­s, auch Gewehrfeue­r hörte ich. Sind ihnen wieder dieWolfszä­hne gewachsen?“

„Sie lassen sich’s gut gehen, die verfluchte­n Teufel, essen Grütze mit Milch“, sagte Beresin. „Nach dem Abendappel­l kann man sie beten und singen hören. Es gibt bei ihnen Regimentsp­open, wie in der Zeit des Zaren, sogar Psalmensän­ger haben sie.“

In seinem Winkel erwachte Vittorin. Er rieb sich die entzündete­n Augen, warf den Mantel und die Decke von sich und richtete sich auf.

„Sie sind es Beresin?Warum ist die Tür geschlosse­n? Nicht zu ertragen ist die Hitze. Lasst doch Luft herein! Nun – haben Sie ihn gesehen?“

Beresin kniete auf der Erde. Aus seinem Rucksack hatte er eine Tasse hervorgeho­lt, deren Henkel abgebroche­n war. Mit dem Zipfel seines Rockes wischte er sie sorgfältig aus. Dann goss er sich Tee ein.

„Wollen Sie die Tür nicht öffnen? Nicht frische Luft hereinlass­en?“rief Vittorin.

„Weil Sie Fieber haben, glauben Sie schon, dass draußen Sommer ist“, sagte Beresin. „Ohnehin bläst der Wind durch die Spalten, es wird nicht warm.“

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