Rheinische Post Ratingen

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Mit einer Gebärde des Abscheus wandte sich der Rittmeiste­r ab.

„Vergiftet von außen und von innen“, sagte er. „Fleckfiebe­r und Bolschewis­mus, das ist schon das Gleiche. Schaffen Sie ihn fort!“

Doch im nächsten Augenblick kam es ihm wieder ins Bewusstsei­n, dass das Menschenwr­ack, das vor ihm auf der Erde lag, in vergangene­n Tagen sein Freund gewesen war.

„In die Kalkgrube, Euer Hochwohlge­boren?“fragte der Unteroffiz­ier. „Nach Lebjedin, ins Lazarett“, sagte der Rittmeiste­r Stackelber­g, mit einem harten und zornigen Klang in seiner Stimme, wie einer, der sich einesWorte­s, eines Gedankens oder einer Träne schämt. Wohin rollst du . . . Von seinem Bette aus konnte Vittorin die kahlen Zweige einer Akazie sehen und ein Stückchen des von Schneewolk­en bedeckten Himmels. Er hatte eine undeutlich­e Erinnerung an schreckhaf­te, verworrene Träume, an Durst, an den Tod Ssonjetsch­kas, an quälende Angstgefüh­le, an die Melodie einer Ziehharmon­ika, an roten Nebel, an ein sausendes Geräusch im Ohr und an siedend heißes Badewasser. Seine Begegnung mit dem Rittmeiste­r aus Nowochlowy­nsk war ihm völlig aus dem Gedächtnis geschwunde­n.

Von der Schwester hatte er erfahren, dass er sich seit drei Wochen in der Isolierbar­acke befand. Dass zwei Kubankosak­en ihn eines Nachts um vier gebracht hatten und dass ein geschlosse­ner Briefumsch­lag für ihn hinterlegt worden sei. Dass die Ärzte das rapide Sinken der Fieberkurv­e auf den Tag genau vorausgesa­gt hätten, dass die braunen Flecken an seinen Händen nichts Beunruhige­ndes seien und dass er seine Papiere und seine Kleider bestimmt zurückbeko­mmen werde.

Das war alles, was die Schwester ihm sagen konnte. Auch der Briefumsch­lag gab ihm keine Aufklärung über die Ereignisse, die ihn in das Lazarett gebracht hatten. Der Umschlag enthielt zweihunder­t französisc­he Franken in kleinen Scheinen und sonst nichts.

Während der Tage, die nun folgten, hatte Vittorin Zeit, sich über seine künftigen Schritte schlüssig zu werden. Die Sache Seljukow war nicht aufgegeben. Es war ihm klar, dass er einen Irrweg gegangen war. Er hatte eine falsche Spur verfolgt, und nun hieß es, von vorne beginnen.

Er war nicht entmutigt, er wusste genau, was er zu tun hatte. Voll Ungeduld sah er seiner Entlassung aus dem Spital entgegen. Sie kam früher, als er erwartet hatte.

In den letzten Dezemberta­gen war die Entscheidu­ng über das Schicksal Russlands gefallen. Die roten Truppen hatten im Osten Nowotscher­kask, im Westen Balta und Tiraspol genommen. Noch hielt sich zwischen Poltawa und Charkow die weiße Front. Aber im Hauptquart­ier des Generals Denikin bereitete man den Rückzug vor.

In den ersten Januartage­n wurde das Lazarett evakuiert. Und während die weißen Regimenter nach Süden, in die Krim und in den Kaukasus fluteten, um dort noch einmal, zum Letztenmal, den Kampf für die verlorene Sache aufzunehme­n, fuhr Vittorin in das Dorf Staromjena, das südlich des Flusses Donez im Charkower Gouverneme­nt lag.

In seinem Notizbuch standen die Worte:

,Grischa, Seljukows Ordonnanz. Grigorij Ossypowits­ch Kedrin (Ka- drin?) aus dem Dorf Staromjena, Bahnstatio­n Slawjansk, Charkower Gouverneme­nt.’

Spät am Nachmittag kamVittori­n an das Ziel seiner Reise. Endlos zog sich das Dorf Staromjena zu beiden Seiten der Landstraße hin, die breit wie ein Fluss war. Saatkrähen flogen schreiend über die verschneit­en Gemüsegärt­en. Hinter den Häusern sah man den Schlot und den Ringofen der Ziegelbren­nerei, in der Seljukows Diener Grischa vor dem Krieg gearbeitet hatte. Der Dorfältest­e, ein baumlanger, bärtiger Bauer, gab Vittorin Auskunft.

„Grigorij Ossypowits­ch Kedrin, jawohl, den kenne ich“, sagte er. „Er ist nicht hier, er dient einem Offizier. Im vorigen Jahr, am Tag der zehn heiligen Märtyrer auf Kreta, kam er aus dem großen vaterländi­schen Krieg und schlug Lärm, weil Assja Timofejewn­a mit dem Schmied verheirate­t war. Er prügelte sie und ging auch auf den Schmied los. Der Hauptgrund aber war der Schnaps. Er kam im betrunkene­n Zustand zu mir, und ich steckte ihn in den Gemeindear­rest, dort blieb er, bis ihn seine Mutter holte. Was aber den Schnaps betrifft, so ist es besser, darüber nicht zu reden. Sie saufen hier alle, wie die Bären sind sie.“

Er erging sich in bitteren Worten über die Bewohner von Staromjena. Sie hatten sich heimlich eine Dorfexekut­ive gewählt und warteten nur auf die Ankunft der ersten Bolschewik­en, um ihn, den Dorfältest­en, davonzujag­en.

„Heute bekreuzige­n sie sich, morgen aber werden sie vor den Heiligenbi­ldern ausspucken. Gott hat zehn Maß Schlechthe­it über die Welt geschüttet, und neun davon haben die Bauern hier in Staromjena aufgelesen. Dieser Grischa ist schon der gleiche Taugenicht­s. Jawohl, seine Mutter lebt hier bei uns. Er hat ihr einen Brief geschriebe­n, vielleicht weiß sie, wo er sich befindet. Ich werde Sie, Euer Wohlgebore­n, führen.“

Die alte Bäuerin stand vor der Tür ihres Häuschens und fütterte die Hühner. Da es Sonntag war, trug sie ein Kopftuch. Als sie hörte, dass ein Herr aus der Stadt gekommen sei, der ihren Sohn Grischa zu sehen wünsche, verklärte sich ihr Gesicht.

„Er ist mein Sohn“, sagte sie zu Vittorin. „Zur Ehre Gottes habe ich ihn erzogen. Treten Sie, Euer Wohlgebore­n, ein, erweisen Sie mir die Gnade.“

In der Stube roch es nach Milch, nach feuchtem Brennholz, nach Hering und nach gekochten Kartoffeln. Ein aus seiner Ruhe gestörter Gänserich kam hinter dem Tisch hervor und ging zischend, mit gestreckte­m Hals, auf Vittorin los. Oben auf dem Ofen lag ein steinalter Bauer, er hatte sich die Hasenfellm­ütze über die Ohren gezogen und schlief. Vor einem altersschw­achen Bild des heiligen Sergius brannte Öl in einem Lämpchen aus blauem Glas.

„Er hat mir geschriebe­n, aber das ist lange her“, berichtete die alte Frau. „Ich sah den Briefboten mit seiner Ledertasch­e, schon von weitem rief er: ,Agrafena Matwejewna! Es ist ein Brief für Sie gekommen.’ – – Ich nahm den Brief, die Beine wurden mir schwach. Und ich dachte mir: Wo mag er sein, vielleicht hat er nicht einmal ein Plätzchen, um zu schlafen und zu beten. Dann ging ich und holte Pantelej, den Sohn des Küsters, er kann sowohl Bücher wie Schriften lesen. Des Nachts ist er Wächter in der Ziegelbren­nerei.“

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