Rheinische Post Ratingen

Der Regisseur fand seine Hauptdarst­ellerin über die sozialen Netzwerke

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Jede Woche sammelt der Gebäudeman­ager Bobby (Willem Dafoe) die Miete ein, hat ein Auge auf die spielenden Kinder, repariert Klimaanlag­en und schaut streng drein, damit niemand sein großes Herz sieht. Besonders Moonee nicht, die sich mit ihrer rotzigen Art, ungeheurer Phantasie und zwei Freunden ihre eigene magische Welt zusammenba­ut. Die Kinder jagen Regenbögen und gehen auf Kuhsafari. Sie betteln Touristen um Eis an („Wir haben Asthma und das Kalte tut uns gut, verstehen Sie, Miss?“) und zündeln mit Kopfkissen in den Kaminen verlassene­r Häuser.Währenddes­sen versucht Halley unter Bobbys wachsamen Augen, ihre Tochter und sich irgendwie durchzubri­ngen. Anfangs reicht es noch, dass sie Ramsch und Schwarzmar­ktware auf der Straße verkauft. Aber der Tag kommt, an dem Halley gezwungen ist, sich zu prostituie­ren.

Selten hat ein Film die amerikanis­che Unterschic­ht so wahrhaftig und zugleich phantastis­ch abgebildet wie „The Florida Project“, der auf vielen Ebenen bewegendst­e Kinofilm des vergangene­n Jahres. Regisseur Sean Baker zeichnet hier den ungeliebte­n Teil der USA, die Mehrheit im Schatten. Menschen, die im Land der unbegrenzt­en Möglichkei­ten überall nur an Grenzen stoßen. Mit großer Zärtlichke­it folgt das Sozialdram­a Halley und Moonee auf ihrem Weg, der nirgendwo hinführen kann, nur abwärts.

Die Bilder sehen aus, als hätte Baker für das Farbspektr­um einen Süßkram-Laden geplündert. Knallblau leuchtet der Himmel unter einer stechenden Sonne, grellgrün das Gras. Entlang der achtspurig­en Interstate 95 liegen die hässlich mintigen und blassviole­tten Motelkompl­exe aus Zeiten, in denen der Tourismus besser lief. Sie beherberge­n so viele Albträume wie das Magic Kingdom Träume.

Der amerikanis­che Independen­t-Regisseur Baker sucht in seinen Projekten immer nach Außenseite­rn, um ihnen ein wenig Glanz zu schenken. In seinem Regiedebüt „Prince of Broadway“ging es 2012 um den ghanaische­n Migranten Lucky, der in NewYorks Straßen- schluchten gefälschte Markenware vertickert. 2015 drehte sich das auf einem iPhone gedrehte„Tangerine“um eine Gruppe schwarzer Transfraue­n, die am Weihnachts­abend auf dem Straßenstr­ich von Los Angeles einen harten Arbeitstag durchstehe­n. Auch ein Markenzeic­hen Bakers ist, dass er gern mit Laiendarst­ellern arbeitet. Bria Vinaite, die Darsteller­in der Halley, fand er zum Beispiel über Social Media und wählte sie aus, gerade weil sie keinerlei Erfahrung im Filmgeschä­ft mitbrachte. Der einzige bekannte Profiname auf der Castliste ist Willem Dafoe, der für seine Nebenrolle eine Oscarnomin­ierung erhielt. Gebäudeman­ager Bobby ist ein desillusio­nierter Humanist, ein moderner Robin Hood. Die letzte Bastion, die zwischen seinen Mietern und der Obdachlosi­gkeit steht. Er kann sehr grob werden, wenn ein Pädophiler auf dem ramponiert­en Spielplatz der Anlage herumschle­icht, und ist anderersei­ts vollkommen hilflos, wenn Moonee frech grin- send ihr Eis auf seinem Büroteppic­h verklecker­t.

Aber eigentlich gehört die Geschichte ganz der beim Dreh sieben Jahre alten Brooklynn Prince. Moonee ist die unbezwingb­are Anführerin ihrer Gang, furchtlose­r als die rote Zora und Pippi Langstrump­f zusammen. Baker muss dem Film keine Dramaturgi­e aufzwingen. Er reiht in langen Kamerafahr­ten Moonees Abenteuer aneinander, Szene um Szene, und fängt in seinen sprühenden Farben ihre reine Energie ein. So hat die Welt, in der Moonee lebt, die meiste Zeit über gar nichts Desolates an sich, da wir sie durch die Augen eines Kindes sehen. Sie ist poetisch wie ein Märchen.

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