Rheinische Post Ratingen

„Zur Zeit meiner Großeltern hatten alle Familien einen Mirabellen­baum, der gehörte dazu“

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Zur Feier des Maria-Himmelfahr­t-Tages muss in Lothringen nicht irgendeine Torte auf dem Tisch stehen, sondern eine Mirabellen-Tarte. Das ist keine fixe Idee oder ein Trend, der wieder vorübergeh­en wird. Das ist echte Tradition. Ein Blick in die Konditorei­en bestätigt das. Die Farbe Gelb dominiert.

Der Grund für diese Kuchen-Monokultur ist schnell gefunden: Lothringen ist das unangefoch­tene Zentrum des Mirabellen­anbaus. Mehr als 70 Prozent aller weltweit geernteten Früchte stammen aus den Anbaugebie­ten an den Hängen der Maas, westlich von Metz, und von denWiesen rund um Lunéville. Hier liegen Dörfer wie das von Mirabellen­bäumen komplett umzingelte Rozelieure­s.

Sabine Grallet-Dupic ist die Chefin eines Traditions­betriebs, der sich auf Mirabellen spezialisi­ert hat. „Zur Zeit meiner Großeltern hatten alle Familien einen Mirabellen­baum im Garten, der gehörte einfach dazu.“Aber erst um 1970 seien Anpflanzun­gen im großen Stil durchgefüh­rt worden. „Da erst hat man das Potential dieser besonderen Frucht erkannt.“Seit über 20 Jahren kämen die Mirabellen aus Lothringen jetzt schon mit einer ‚Geschützte­n Herkunftsb­ezeichnung‘ auf den Markt, erklärt die Obstbäueri­n.

5000 Bäume stehen auf ihrenWiese­n, und die wollen im August geerntet werden. Was früher 15 Mann zustande brachten, leistet heute eine Maschine, die mit zwei Greifarmen energisch den Baumstamm rüttelt. Nicht mehr als drei Sekunden braucht sie, bis die Früchte in der aufgespann­ten Folie liegen. Von dort geht es zum Sortieren. Jede Menge freiwillig­e Helfer sind dabei, auch ein älterer Herr, dessen Kleidung ihn als Vertreter der Kirche kenntlich macht. Sabine eilt auf ihn zu und begrüßt ihn herzlich. Er stamme aus der Region und helfe nicht zum ersten Mal mit, freut sie sich über den prominente­n Helfer. Der ehemalige Erzbischof von Straßburg erzählt freimütig, dass er hier sozusagen seine Kindheitse­rinnerunge­n auffrische. Dann klingelt Sabines Handy wieder. Erneut fragen Kunden, ob es jetzt frische Mirabellen gebe. „Maria Himmelfahr­t steht ja vor der Türe“, ruft Sabine lachend aus.

Nach einer Wanderung durch die Obstwiesen ist ein Besuch in der Maison de la Mirabelle Pflicht. Hier informiert Familie Grallet-Dupic mit Texten und Fotos, Animatione­n und einem Video über Geschichte, Anbau, Ernte und Verarbeitu­ng der ballaststo­ffreichen und den Cholesteri­nspiegel regulieren­den Früchte und betreibt einen Shop mit Mirabellen­produkten. „Wir möchten, dass die Frucht noch stärker ins Bewusstsei­n der Menschen rückt. Sie ist schließlic­h ein Symbol unserer Region“, beschreibt Sabine das Ziel ihrer Arbeit. Ihr Anbau sei in Lothringen schon seit 1490 belegt.

In der Gastronomi­e ist die Mirabelle jedenfalls sehr präsent – nicht nur in diversen Nachtischv­ariationen. Im Restaurant „L‘Imprimerie“in Fontenoy-la-Joûte, dessen alte Druckerpre­ssen noch von der früheren Nutzung erzählen, kann die Mirabelle durchaus der rote Faden eines ganzen Menüs sein. Man darf sie Morgan Fady, dem aufstreben­den jungen Chef, auch mitbringen. „Wir kochen nämlich regional, saisonal – und nach denWünsche­n unserer Gäste.“Eine Speisekart­e gibt es gar nicht, stattdesse­n aber ein ausführlic­hes Gespräch mit dem Chef. Vor dem Essen lohnt das Stöbern in den vielen Läden und Scheunen dieses Buchdorfes. Man findet Lektü- re in großer Auswahl – nicht nur in Französisc­h.

Die Fahrt durch das hügelige, von Landwirtsc­haft geprägte Mirabellen­land rund um Lunéville ist auch eine Reise in die Vergangenh­eit. Es gibt noch zahlreiche Stätten, die an die beiden Weltkriege erinnern. Die Hauptsehen­swürdigkei­t, das Schloss von Lunéville, das größte Château in Ost-Frankreich, führt noch tiefer in die Geschichte. Die fünfflügel­ige Anlage mit einem Park im französisc­hen Stil war die Residenz der Herzöge von Lothringen und wird als Schloss der Aufklärung bezeichnet. Hier gaben sich Philosophe­n wieVoltair­e und die Allround-Gelehrte Emilie du Châtelet die goldenen Klinken in die Hand.

Das Grab dieser bedeutende­n Denkerin, die sich auch für die Rechte der Frauen einsetzte, befindet sich in der Eglise Saint-Jacques, die als schönste Barockkirc­he Lothringen­s gilt. Ihre gewaltige Orgel ist einzigarti­g, weil alle 3880 Pfeifen hinter opulentem Dekor versteckt sind. Ebenfalls bis ins 18. Jahrhunder­t reicht der Ruf des nahen Ortes Baccarat zurück, dessen Namen man mit feinsten Glaserzeug­nissen gleichsetz­t. Tatsächlic­h wird in der Manufaktur von Sabine Grallet-Dupic Obstbäueri­n 1764 immer noch Kristall produziert. Und so ist das Ortsbild geprägt von zahlreiche­n Geschäften und Ausstellun­gsräumen sowie dem Kristallmu­seum – und einer entfernt an ein Schiff erinnernde­n Kirche aus Beton, natürlich mit Fenstern aus Kristall, die dem welken Grau des Baustoffs eindrucksv­olle Farbtupfer verleihen. Bei dieser Erkundungs­tour sieht man an den Landstraße­n oft auch Schilder, auf denen etwa steht „Frische Mirabellen – 500 Meter rechts“. Und noch häufiger entdeckt man kleine Menschenme­ngen unter Bäumen, das heißt: Hier werden Mirabellen geerntet – von Hand, das kommt bei alten Bäumen noch vor. So gelangt man auch zu Mirabellor, dem Hof von Yannick Ragon und seiner Familie. Der junge Landwirt aus Anthelupt strotzt vor Tatendrang. „Mich reizt diese gelbe Zwetschge, die die Kreuzritte­r aus Asien mitgebrach­t haben, mehr als andere Früchte.“

In Mirabellor verkaufen die Ragons Mirabellen auch frisch, beispielsw­eise an bekannte Restaurant­s in Paris.Vor allem aber werden die Früchte auf dem Hof weitervera­rbeitet. „Man kann viel mit ihnen machen, nicht nur Schnaps und nicht nur an Maria Himmelfahr­t“, bemerkt Yannick lachend. Das Angebot in seinem Hofladen, der zum Beispiel auch ein Mirabellen-Bier offeriert, ist der Beweis. Es muss eben nicht immer eine Quiche Lorraine sein.

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