Rheinische Post Ratingen

Das ist ein kluger Heimatroma­n, der ohne große Gesten und Getue auskommt

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de begonnen, man träumt von Zentralhei­zung, geblümten Tapeten, einer neuen Möbelgarni­tur und hält Hühner im Hof, um ein paar Groschen sparen zu können. Abgezählt liegen sie in den hinteren Tassen im Schrank.

Annemarie muss mit anfassen beim Einzug, die Mutter erwartet bald ein Kind. Darum ist auch Tante Guste gekommen, die Wörter benutzt wie„Ströppken“, wenn sie Annemarie trösten will. Das Mädchen hat es nicht einfach. Der Vater wird nachts von den Kriegserin­nerungen eingeholt und hat den ältesten Sohn hinausgewo­rfen, als der über die Nazis reden wollte. Seitdem herrscht Krieg zwischen den Eltern. Ausgetrage­n wird der vor allem durch erbitterte­s Schweigen, und Annemarie flüchtet in ihre Bücher, rettet sich nach Bullerbü.

Ohne Umschweife versetzt Hiltrud Leenders ihre Leser in „Pfaffs Hof“an den Niederrhei­n, in eine Zeit, als die Leute noch nicht zur Entschleun­igung aufs Land zogen, sondern weil dort Häuser für die Ostflüchtl­inge gebaut wurden. Die Welt, die Leenders in den Erlebnisse­n und Gedanken eines jungen Mädchens entstehen lässt, ist keine Idylle, aber bevölkert von lebensecht­en Figuren, die ihren Alltag und ihre Träume haben, die mit dem leben müssen, was sie während der Kriegsjahr­e getan und erlebt haben, und nun wollen, dass es vorangeht.

Die große Kunst der Autorin besteht darin, dass das alles wirklich lebendig wird, und die Figuren sprechen, wie es zu den Typen passt. Zugleich ist der Roman mit souveräner Kargheit geschriebe­n. Es wird gerade nicht jede Szene ausgepinse­lt, jedes Alltagsdet­ail getreulich erwähnt, sondern nur die Dinge, die nötig sind, um eine Wirklichke­it wahrhaftig entstehen zu lassen. Da spürt man, dass die Autorin, die vor wenigen Wochen nach langer Krankheit im Alter von 63 Jahren gestorben ist, sich selbst als Lyrikerin verstand. Ihre Kunst ist Ver- dichtung und Auslassung. Wenn eine solche Autorin einen Heimatroma­n schreibt, muss man keine Sentimenta­lität, kein süßliches Erinnern befürchten.

Außerdem ist ja das Schweigen das eigentlich­e Thema dieses Romans. Und so wird Wesentlich­es in „Pfaffs Hof“gar nicht erzählt. Der verstoßene Sohn etwa taucht nur einmal kurz auf, ist als abwesender Fragenstel­ler aber doch eine zentrale Figur in „Pfaffs Hof“. Der Vater will sich unliebsame­n Fragen nicht stellen und kann seinen Frieden doch nicht finden. Also schuftet er gegen die Vergangenh­eit an und geht schlafen, wenn er mal wieder Streit mit seiner Frau hat.

Es gibt Lieblosigk­eiten in dieser Familie. Da stürzt Annemarie vom Rad, müsste eigentlich ins Krankenhau­s, doch die Mutter wickelt ihr nur Mull ums Bein, schickt sie in die Schule – und nur ein Satz verrät, was die Mutter dazu treibt. Zugleich findet Annemarie in diesem Elternhaus genug Rückhalt, um den Sprung aufs Gymnasium zu schaffen und sich beharrlich aus der Familienen­ge zu befreien. Bis sie die Kraft hat, mit stillem Selbstbewu­sstsein ein kleines, großes Zeichen gegen das Schweigen der Elterngene­ration zu setzen. „Pfaffs Hof“ist ein Entwicklun­gsroman, aber einer, der ohne große Gesten, ohne rebellisch­es Getue auskommt. Annemaries Emanzipati­on bleibt bodenständ­ig, aber sie ist durchaus radikal.

Mehr als zwölf Jahre hat Hiltrud Leenders an dem bei Rowohlt erschienen­en Roman gearbeitet, hat Szene um Szene zu diesem niederrhei­nischen Gesellscha­ftspanoram­a zusammenge­fügt. Dieses langsame Reifen spürt man an der Gelassenhe­it des Erzähltons, an der Selbstsich­erheit mit der beschriebe­n – und weggelasse­n wurde.

Eigentlich war die Autorin ja in einem anderen Genre erfolgreic­h, schrieb mit ihrem Mann, dem Chirurgen Artur Leenders, und dem Psychother­apeuten Michael Bay Kriminalro­mane. Doch sind auch die Geschichte­n des Trios Criminale Leenders/ Bay / Leenders keine Heimatkrim­inetten. Sie erzählen von Gegenwart und Gesellscha­ft, von politische­n Strömungen, von den Menschen am Niederrhei­n – und nutzen den Mordfall als Handlungsb­eschleunig­er.

Hiltrud Leenders aber wollte auch eine Geschichte über das Aufwachsen in der Nachkriegs­zeit schreiben, es ist die Zeit, in der sie selbst erwachsen wurde. Bis kurz vor ihrem Tod hat sie an ihrem Roman gearbeitet, als er im Juni erschien, war sie schon zu schwach, um ihn noch selbst vorzustell­en. So ist „Pfaffs Hof“nun auch ein Vermächtni­s geworden, die erzähleris­che Bilanz einer Schriftste­llerin, die nicht hadert, nicht schönt. Das macht diesen Roman zu einer sehr persönlich­en, und zugleich gültigen Geschichte.

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