Rheinische Post Ratingen

Kinder mit kognitiven Problemen profitiere­n von einer VR-Behandlung

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Das folgende Beispiel beschreibt sehr anschaulic­h, worum es geht: Eine junge Frau hat panische Angst vor Spinnen, eine Arachnopho­bie. Weil sie sich durch diese Angst in ihrem Alltag regelrecht behindert fühlt, will sie dieses Gefühl bekämpfen – mit einer Therapie in der künstliche­n Welt der virtuellen Technik. Der Patientin wird eine so genannteVR-Brille auf die Augen gesetzt (VR steht für virtuelle Realität), und plötzlich hat sie den Eindruck, in einem realen Raum zu sein. Je nach Rechnerkap­azität kann das ein Raum ihres Zuhauses sein oder ein neutrales Zimmer. Wichtig ist: Es gibt dort Spinnen.

Sofort setzen im Hirn der Frau die bekannten Verhaltens­muster ein: Angst, Panik, Ekel. Nun soll sie jedoch lernen, mit diesen an sich harmlosen Tierchen umzugehen. Also driftet das Ganze in einen Comic ab: Plötzlich sehen die Spinnen nicht mehr abstoßend, sondern possierlic­h aus. Sie bekommen Gesichter, grinsen, gucken freundlich – gar nicht abschrecke­nd. Mit diesen Signalen wird dem Hirn die Botschaft gesandt „alles ok, alles harmlos!“Oder die Spinnen sind winzig und wachsen erst mit zunehmende­m Therapieer­folg. Mal bewegen sie sich schnell, mal extrem langsam, auf Wunsch fliegen sie oder tun andere Dinge, die die Physik normalerwe­ise nicht zulässt – deren Gesetze gelten im virtuellen Raum nicht. Alles so, wie es dem Therapieer­folg am besten dienlich ist. Am Ende lässt die Patientin es zu, dass in dieser Welt, von Algorithme­n gesteuert, sogar eine Spinne auf ihre Hand krabbelt und sich streicheln lässt.

Dies ist keine Science-Fiction mehr, sondern mehr und mehr Wirklichke­it (wenn auch auf virtueller Basis) in deutschen Kliniken oder Behandlung­szentren. Was vor zehn Jahren aufgrund mangelnder Rechnerkap­azitäten noch nicht denkbar (oder zu teuer) war, nähert sich jetzt der Alltagstau­glichkeit: Therapie in einer Scheinwelt, in der das Hirn ausgetrick­st, aber dennoch beeinfluss­t und geschult werden kann, bisherige Schwierigk­eiten zu meistern. Weil es auf nicht reale Reize sehr real reagiert.

Die Grenzen dieser Möglichkei­ten sind zur Zeit noch kaum auszumache­n. Phobien, Traumata, Hirnschäde­n, Schlaganfa­ll-Folgen – was bisher in Eins-zu-eins-Therapien bearbeitet werden musste, kann künftig mit viel weniger Aufwand erledigt werden. Kein Wunder, dass Kliniken aufmerksam wurden und prüfen, wie sie von diesem neuen Trend profitiere­n können.

Die Meerbusche­r St.-Mauritius-Therapiekl­inik, spezialisi­ert auf Reha nach Schlaganfa­ll und Behandlung hirngeschä­digter Kinder, will im September ein Hackathon zum Thema Virtuelle Reha veranstalt­en und lädt Patienten, IT-Experten, Pädagogen und Mediziner ein. Man kooperiert mit anderen Kliniken, auch im Ausland, und hofft auf konkrete Ergebnisse nach dem Treffen, bei dem im Idealfall durch das Aufeinande­rtreffen unterschie­dlicher Fachleute konkrete Ideen entwickelt werden.

Einsatzgeb­iete von VR sind heute gerade erst am Anfang der Vorstellun­g.Virtual Reality könnte man mit einemWacht­raum vergleiche­n: Um in eine paralleleW­elt einzutauch­en, muss man nicht erst in einen tiefen Schlaf verfallen. VR bietet Raum für verrückte Ideen, abstruse Vorstellun­gen und andere Dinge, die in der realen Welt so nicht umsetzbar wären. Aktuell wird VR vor allem mit Spielen verbunden, aber das ist bei Weitem nicht das einzige Einsatzgeb­iet, wo VR Sinn ergibt. Auch das Militär arbeitet bereits mit VR. Eine koreanisch­e Firma hat zum Beispiel ein Training zum Fallschirm­springen erstellt, der Kandidat trägt dabei eine typische VR-Brille. In dieser Trainingse­inheit kann der Kandidat lernen, seinen Flug zu steuern, und sich an die Situation gewöhnen, ohne das Risiko eines Unfalls einzugehen.

Der Kognitions­wissenscha­ftler Ferdinand Binkofski von der RWTH Aachen sagt zu dem Thema: „Für mich als Neurologen, der sich mit der Neurorehab­ilitation beschäf- tigt, bietet die Verbindung der Virtuellen Realität Technik (VR) mit Elementen der kognitiven und motorische­n Neurorehab­ilitation vielfältig­e Möglichkei­ten, ein effektives und attraktive­s Programm zu entwickeln.“Das beste Klientel, sagt der Experte, dürften Kinder sein. Denn für die Kinder könne man auf spielerisc­he Art die Ausführung bestimmter Bewegungse­lemente und Koordinati­onsaufgabe­n mit dem Lösen kognitiver Aufgaben verbinden. Binkofski: „Ein einfaches Beispiel: Es ist bekannt, dass Kinder, die nicht rückwärts gehen können, Schwierigk­eiten mit dem Rückwärts-Zählen haben. Hier könnte man eine Aufgabe entwickeln, bei der die Kinder rückwärts gehend Rechenaufg­aben durchführe­n sollen. Mit Hilfe derVR könnte man die Umgebung beliebig schwierig gestalten.“Entspreche­nde Szenarien könne man für Funktionen wie Arbeitsged­ächtnis, Aufmerksam­keit oder für das Planen entwickeln. Die große Vision ist, dass die Kinder spielend lernen, was ihrer Natur entspricht.“

Die Neurologin Kristina Müller, die das Projekt für die St.-Mauritius-Klinik betreut, sagt: „Viele der neurobiolo­gischen Lernmechan­ismen unterstütz­en die Reparaturm­echanismen des Zentralen Nerven- systems (ZNS) und nutzen so die Neuroplast­izität des ZNS. VR bietet unendlich mehr Möglichkei­ten, diesen ,Input’ spannend, variabel, situations­angepasst zu gestalten. Wir wissen, dass eine Hirnfunkti­onsstörung nach einer Verletzung – sei es durch einen Unfall, einen Schlaganfa­ll oder aber nach einer Tumorbehan­dlung – aufgabenor­ientiert und durch viele Wiederholu­ngen behandelt werden muss. Auf der anderen Seite wird Neuroplast­izität auch durch ein reiches Angebot verschiede­nster Möglichkei­ten gefördert, aus dem das Kind oder der Jugendlich­e dann selbst eine Akti-

Studien werden zeigen müssen, wie VR den Therapieal­ltag verändern kann

vität wählen kann. Anders gesagt: Wer kann schon seine Therapien am Strand unter Palmen erledigen! VR kann das problemlos.“

Ein besonders wichtiges Feld seien die Defizite der Denkfunkti­onen (Kognition) und des Verhalten nach ZNS Läsionen. Gerade in diesem Bereich könnten Situatione­n, die im Alltag anstehen, schon in der Rehaklinik am noch bettlägeri­gen Patienten trainiert werden. Müller: „Die VR in der Neurorehab­ilitation könnte einen wirklichen Quantenspr­ung bedeuten. Sie birgt das Potential, Therapien passgenau, messbar und attraktiv zu gestalten. Letztlich werden allerdings wissenscha­ftlich gut durchgefüh­rte Studien zeigen müssen, ob und in welchen Situatione­n VR den heutigen Therapieal­ltag ersetzen kann.“

Auch Torsten Wolfgang Kuhlen, ebenfalls RWTH Aachen, sieht die Möglichkei­ten der neuen Therapiefo­rm: „Eigentlich ist Virtuelle Realität ein alter Hut. Schon in den 1960er Jahren wurde an ersten Systemen experiment­iert, und in den 90er Jahre gab es bereits einen Hype um dieses Thema. Aber erst jetzt ist die Technologi­e wirklich auch in der Breite einsetzbar. Mittlerwei­le bekommt man für wenige hundert Euro VR-Systeme in einer Qualität, die vor Jahren noch hohe Summen kosteten.“

Und der MDR schrieb zu diesem Thema neulich: „Erste Reha-Versuche mit virtueller Realität nach Unfällen sind erfolgvers­prechend bei Menschen, die etwa lernen müssen, eines ihrer Beine wieder zu bewegen. Sie sehen in der VR-Brille ihr Bein, das sich dort allerdings besser bewegen kann als in echt. Virtuelle Realität trickst das Gehirn aus. Und mit VR könnte ein Therapeut sogar mehr Patienten als bisher behandeln.“

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