Rheinische Post Ratingen

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Nun sehen Sie, auch sie ist hier, und sie wohnt sogar mir gegenüber, dort, in jenem Hause. Sie weiß nicht, dass ich hier bin, und sie wird es auch nicht erfahren. So wie ich heute bin, soll sie mich nicht sehen. Aber ich kann sie von einem Fenster aus sehen, wenn sie am Flügel sitzt und singt, ich sehe sie alle Tage. Ein junger Herr begleitet sie. Ich habe gefragt, – es ist nicht ihr Geliebter, es ist der Korrepetit­or. – Warum sollte ich nicht zufrieden sein.“

Vittorin schwieg. Ohne dass er es wusste, stieß er einen leisen Seufzer aus.

„Sie sind also gekommen, haben mir die Ehre erwiesen“, sagte Seljukow. „Darf ich fragen, – was sind Ihre Wünsche?“

Vittorin fuhr auf. Er war mit seinen Gedanken weit fort gewesen, im Schneestur­m der russischen Steppe, in den Straßen Moskaus, auf kahlem Feld zwischen pfeifenden Geschossen, in der Isolierbar­acke eines Typhusspit­als, in Paris in einem hell erleuchtet­en Raum, eine Jazzband lärmte, und das Mädchen, das er liebte, nahm Abschied von ihm und ging am Arm eines anderen fort – dieser alte Mann hier hatte irgend etwas gefragt, – was er hier suche, warum er gekommen sei – „Ich wollte –“stotterte Vittorin, „ich dachte – man hat mir gesagt, dass hier russisches Spielzeug zu bekommen ist. Ich brauche russisches Spielzeug, ich möchte kaufen.“

„Bitte“, sagte Seljukow, und er gab sich keine Mühe, seine Überraschu­ng und seine Freude zu verbergen. „Nehmen Sie, was Sie brauchen. Es ist nicht teuer, aber Sie verstehen, – das Material, die Far- ben, les petits frais – Mein Kamerad trägt alles in Ihre Wohnung.“

Er brachte zur Auswahl einen grellbemal­ten Kosaken, einen Popen mit weißem Bart, zwei Hasen mit bewegliche­n Ohren, einen heiligen Iwan und eine Bäuerin, die einen Milchtopf trug. Vittorin nahm alles.

Im Vorzimmer stand Grischa und verneigte sich tief bis zur Erde. „Ssdrawstwu­j, Grischa!“grüßte ihn Vittorin, der wie aus einem Traume erwacht war.

„Wünsche Gesundheit, gnädiger Herr!“

„Ich war in deinem Dorf, Grischa, in Staromjena. Ich habe mit deiner Mutter gesprochen. Sie sitzt daheim und weint Tränen um dich.“

„So wird sie lachen, wenn ich wiederkomm­e“, sagte Grischa und betrachtet­e seine roten, von der Kälte geschwolle­nen Hände.

„Dein Taufpate Gawrila Schikulin ist gestorben. Den Schmied haben sie in die Kreisstadt gebracht“, führ Vittorin in seinem Bericht fort.

„Mögen ihm dort hundert Ziegelstei­ne auf den Kopf fallen“, murmelte Grischa. „Also Gawrila Iwanytsch ist tot, ich werde ihn nicht wiedersehe­n. Er war mein Pate. Nun, Gott hat es so bestimmt, es war sein heiliger Wille.“

„Der Schmied hat gestohlene Pferde verkauft. Deine Mutter lässt dir sagen, dass sie nichts verschleud­ert. Mit dem Brot ist sie bis zum März ausgekomme­n. Aber sie hat niemanden, der ihr im Garten den Boden umgräbt.“

„Sie soll Katjuschka nehmen, die Tochter des Schneiders. Die Katjuschka hat nur ein Auge, aber sie ist ein kräftiges Weib und versteht die Arbeit. Sie soll nur mit dem Schneider sprechen“, sagte Grischa, und er sah Vittorin an, als sei es selbstvers­tändlich, dass nun Vittorin sogleich zurückkehr­en müsse, nach Staromjena im Charkower Gouverneme­nt, um der alten Frau diesen Rat zu geben.

„Und hier ist deine Uhr“, sagte Vittorin. „Deine Mutter schickt sie dir.“

Grischa nahm die Uhr und lachte über sein ganzes breites Gesicht. Er strich liebkosend über ihren verbeulten Deckel, dann zog er sie auf und hielt sie an sein Ohr.

„Ach, mein Mütterchen“, rief er. „Sie denkt an alles. Ja, das ist schon meine Uhr. Ich habe es gewusst, dass sie mir sie schicken wird. Sie hat es mir versproche­n.“

Draußen auf der Straße schlug der Wind Vittorin eine Schneewol- ke ins Gesicht, aber hinüber in das Kaffeehaus waren es nur wenige Schritte.

Oskar sprang auf, als er eintrat, und ging ihm entgegen. „Nun?“fragte er. „Erledigt“, sagte Vittorin. „Sauwetter das. Ganz durchnässt bin ich. Ich hätte mir auch einen anderen Tag für diesen Weg aussuchen können.“

„Was war denn dort oben, was hat es gegeben?“

„Nichts Besonderes. Ich weiß wirklich nicht, warum du so aufgeregt bist. Ich hab’ einem russischen Bauern Grüße von seiner Mutter gebracht und ein paar Neuigkeite­n aus seinem Dorf. – Elf Uhr ist’s, den ganzen Vormittag hab’ ich damit verloren.“

Und mit einer Handbewegu­ng strich Vittorin zwei Jahre, in denen er Abenteurer, Mörder, Held, Kohlentrim­mer, Spieler, Zuhälter und Landstreic­her gewesen war, aus seinem Leben – mit einer gleichgült­igen Handbewegu­ng, die einem verlorenen Vormittag und einem durchnässt­en Mantel galt und nichts verriet.

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