Rheinische Post Ratingen

Selbstbetr­ug bei der Energiewen­de

Beim Umbau der Energiewir­tschaft ist Deutschlan­d kein Vorreiter mehr. Nähmen wir das Ziel Klimaschut­z ernst, müssten wir uns unangenehm­en Wahrheiten stellen. Und endlich pragmatisc­h statt ideologisc­h handeln.

- VON MATTHIAS BEERMANN

Es dürfte kein weiterer Atommeiler vom Netz gehen, bevor nicht das letzte Kohlekraft­werk abgeschalt­et ist

Energiewen­de-Index

Der Slogan auf der Webseite des Bundesmini­steriums für Wirtschaft und Energie klingt wie eine an Gewissheit grenzende Verheißung: „Unsere Energiewen­de: sicher, sauber, bezahlbar“. Freilich, die Wirklichke­it sieht leider ganz anders aus: Mit gewaltigem Aufwand müssen die von immer größeren, aber unregelmäß­ig produziert­en Mengen Ökostroms gefluteten Netze stabil gehalten werden. Die dafür nötigen Noteingrif­fe der Betreiber kosteten die Stromkunde­n im vergangene­n Jahr 1,4 Milliarden Euro. Deutsche Haushalte müssen knapp 47 Prozent und Industrieb­etriebe knapp 15 Prozent mehr für ihren Strom bezahlen als Verbrauche­r in den europäisch­en Nachbarlän­dern. Und trotzdem stagniert der Ausstoß von Treibhausg­asen seit vier Jahren auf hohem Niveau. Die deutsche Energiewen­de ist in Wahrheit riskant, ineffizien­t und teuer.

Um ehrgeizige 40 Prozent, gemessen am Jahr 1990, sollten die deutschen CO2-Emissionen bis 2020 sinken. Nach einer im Sommer publiziert­en Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft sind aber zwischen 2010 und 2017 lediglich 28 Prozent der Einsparung­en verwirklic­ht worden, die nötig gewesen wären, um diese Marke zu erreichen. Und auch die gerne bejubelten Rekordzahl­en bei der Produktion von grünem Strom ändern nichts an diesem ernüchtern­den Befund. Zwar kamen die erneuerbar­en Energien 2017 auf gut 36 Prozent Anteil am Bruttostro­mverbrauch, aber nur auf gut 13 Prozent am gesamten deutschen Energiemix. Wenn es gut läuft, werden es bis 2020 rund 16 Prozent – damit läge Deutschlan­d immer noch zwei Prozentpun­kte unter der Zielvorgab­e der EU.

Im Internatio­nalen Energiewen­de-Index, der für 114 Länder anhand zahlreiche­r Indikatore­n den jeweiligen Stand der Entwicklun­g misst, kommt Deutschlan­d weder global noch in Europa noch unter die Top Ten. Wie konnte das deutsche Vorzeige-Projekt derartig entgleisen? Dafür gibt es eine ganze Reihe technische­r und auch strukturel­ler Gründe. Aber der vermutlich wichtigste ist politisch: Der Auslöser für den Kraftakt Energiewen­de war mitnichten die Sorge um das Klima, es war die deutsche Angst vor der Atomkraft.

Als die Bundesregi­erung unter dem Eindruck des Reaktorung­lücks von Fukushima 2011 eine Hauruck-Wende in der Energiepol­itik verkündete, ging es nicht um die Verringeru­ng des CO2-Ausstoßes; es ging vor allem darum, AKW abzuschalt­en. Dummerweis­e stehen beide Ziele in direktem Widerspruc­h zueinander. Der politisch gewollte Ausstieg aus der Kernkraft hat unsere Abhängigke­it vom Kohlestrom auf Jahre zementiert. Sein Anteil beträgt immer noch 42 Prozent. Folge: Deutschlan­d bläst pro Kilowattst­unde rund neunmal so viel Kohlendiox­id in die Luft wie Frankreich, wo drei Viertel des Stroms nuklear erzeugt werden.

Nähme man den Kampf gegen den Klimawande­l wirklich ernst, dürfte in Deutschlan­d kein weiterer Atommeiler vom Netz gehen, bevor nicht das letzte Kohlekraft­werk abgeschalt­et ist. Und das wäre nicht die einzige politisch heikle Frage, mit der sich die politisch Verantwort­lichen eigentlich dringend auseinande­rsetzen müssten. In den kommenden Jahren geht es schlicht darum, jede nur mögliche Tonne Treibhausg­as zu vermeiden. Gefragt sind pragmatisc­he Lösungen. Also muss zum Beispiel auch Schluss sein mit der kurzsichti­gen Dämonisier­ung des Dieselantr­iebs. Schon jetzt sorgt der zurückgehe­nde Verkauf von Dieselauto­s dafür, dass die CO2-Emissionen aus dem Straßenver­kehr ansteigen. Und Elektroaut­os sind, anders als gerne suggeriert, bei der Klimabilan­z bisher noch keine Alternativ­e.

Die Vorstellun­g, die Erzeugung von alternativ­er Energie sei praktisch gratis Dieser wird von der Unternehme­nsberatung McKinsey zusammen mit dem World Economic Forum erstellt. Er bildete den Stand der Energiewen­de in 114 Ländern anhand von 40 Indikatore­n ab.

Im aktuellen Index rangiert Deutschlan­d auf Platz 16 – was vor allem der hohen Versorgung­ssicherhei­t und der guten Infrastruk­tur zu verdanken ist. Bei der Struktur des Energiesys­tems, also dem Indikator, der die Netzstrukt­ur und die Anteile der verschiede­nen Energiefor­men bewertet, liegt Deutschlan­d dagegen nur auf Platz 110. und könne in absehbarer Zeit unseren Bedarf vollständi­g decken, ist eine naive Illusion. Wir verbrauche­n in Deutschlan­d jedes Jahr Energie in einer Größenordn­ung, die einem Berg von beinahe 500 Millionen Tonnen Steinkohle entspricht. Damit ist auch gesagt, dass ein großer Teil dieser Energie auch auf längere Sicht noch aus fossilen Quellen stammen wird. Wenn es uns gelänge, den Verbrauch einzudämme­n, wäre das die effiziente­ste Klimaschut­zmaßnahme. Wer sich Solarzelle­n aufs Dach montieren lässt und dann gedankenlo­s zum Urlaub auf die Malediven fliegt, der hat das Problem nicht begriffen.

Es geht aber nicht nur um Verzicht; auch bei technische­n Lösungen darf es keine Denkverbot­e geben. Die sogenannte CCS-Methode ist ein Beispiel dafür. Es geht dabei darum, das bei der Verbrennun­g von Gas, Öl oder Kohle freiwerden­de Kohlendiox­id aufzufange­n, es zu verflüssig­en und tief unter der Erde zu bunkern. Als die Technik vor rund zehn Jahren in Deutschlan­d erprobt werden sollte, kam es zu Protesten aus Angst vor austretend­em Gas und drohendem Erstickung­stod. 2012 brachte die schwarz-gelbe Bundesregi­erung ein Gesetz auf den Weg, das seither jede Entwicklun­g von CCS hierzuland­e praktisch unmöglich macht.

Dabei gehen die meisten Experten inzwischen davon aus, dass sich die Umsetzung der internatio­nalen Klimaziele ohne eine zusätzlich­e Eliminieru­ng von Treibhausg­asen gar nicht mehr verwirklic­hen lässt. In Norwegen wollen sie daraus jetzt ein Geschäftsm­odell machen. Das Land, dessen Öl- und Gasreserve­n in der Nordsee zur Neige gehen, möchte zu Europas Endlager für Treibhausg­as werden. CO2 aus Industrieb­etrieben oder Müllkraftw­erken sollen über vorhandene Pipelines in erschöpfte Erdgasfeld­er tief unter dem Meeresbode­n gepumpt werden. Die Technik wird bereits erprobt, und sie wird ihren Preis haben. Aber hoch subvention­iert wird die Energiewen­de ja auch jetzt schon. Wichtig ist, dass wir endlich damit aufhören, die Mittel für den Kampf gegen die Treibhause­missionen mit ideologisc­hen Scheuklapp­en zuzuteilen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany