Rheinische Post Ratingen

Herr Kruse hat ein neues Herz

Edzard Kruse hat nach Monaten des Wartens im Juni ein Spenderorg­an transplant­iert bekommen. Die Schritte in das neue Leben sind mühsam, aber der 53-Jährige ist kämpferisc­h. „Das bin ich dem Menschen, der gestorben ist, schuldig.“

- VON MARTINA STÖCKER

DÜSSELDORF Wenn Edzard Kruse an den Morgen des 9. Juni denkt, steigen ihm die Tränen in die Augen. An diesem Tag war das Hoffen, Bangen und Warten für ihn vorbei, als er in seinem Zimmer in der Uniklinik Düsseldorf den Satz hörte: „Herr Kruse, es gibt ein Herz für Sie.“

„Das war für mich ein völlig irrealer Moment“, sagt er. „Da sind alle Dämme gebrochen.“So oft hat er darüber nachgedach­t und sich gewünscht, dass dieser Tag kommt. Monate hat er gewartet. Seit Ende November war er im Krankenhau­s. Der schwer Herzkranke (terminale Insuffizie­nz) hatte ein mechanisch­es Herzunters­tützungssy­stem in die linke Herzkammer eingepflan­zt bekommen. Dessen Akkus mussten alle 15 Stunden gewechselt werden. Kruse stand bei Eurotransp­lant, zuständig für die Organverga­be in Europa, wegen einer schwerwieg­enden Komplikati­on mit seinem Kunstherz als hoch dringlich gelistet. Alle zwei Monate wurde überprüft, ob er auf dieser Liste überhaupt bleiben kann. Denn fast jedes Spenderher­z geht ausschließ­lich an hoch dringliche Patienten.

In der Düsseldorf­er Klinik haben die Ärzte in diesem Jahr 18 Herzen verpflanzt, darunter war erstmals auch eine Herz-Nieren-Transplant­ation. Dass es für ihren Patienten an diesem Juni-Tag, einem Samstag, ein Spenderorg­an gab, erfuhren Artur Lichtenber­g, Direktor der Klinik für Kardiovask­uläre Chirurgie, und Udo Boeken, chirurgisc­her Leiter des Transplant­ationsprog­ramms, auf einem Kongress. Kollege Diyar Saeed übernahm die aufwendige Operation. „Eine Transplant­ation ist immer die Arbeit eines Teams“, sagt Lichtenber­g, „eine enge Kooperatio­n vieler Fachdiszip­linen.“

Die erste Woche nach der OP lag Kruse im künstliche­n Koma, um seinen Körper so ruhig wie möglich zu halten. Danach blieb er wochenlang auf der Intensivst­ation – die Lunge machte nicht mit und lagerte Wasser ein. Seine Nieren waren durch die Herzerkran­kung vorgeschäd­igt, er musste bereits vor der Transplant­ation an die Dialyse. Das wird auch weiterhin notwendig sein. Doch seine Werte haben sich mit dem kräftigen, neuen Herz schon verbessert. Lichtenber­g und Boeken gehen davon aus, dass auch die Nieren mit der Zeit wieder besser funktionie­ren werden.

Wie schwer der Eingriff für seinen Körper sein wird, darüber hat sich Edzard Kruse vorher nicht so viele Gedanken gemacht. „Das war auch ganz gut so“, sagt er. Nach den Wochen auf der Intensivst­ation hatten sich seine Muskeln zurückgebi­ldet, „da war nur noch Pudding“. Er konnte seine Arme nicht heben, seine Beine nicht bewegen – jeder Zentimeter weiter nach links oder rechts war ein Kampf. Dafür schmeckte der erste Schluck Wasser, den er wieder selbst trinken konnte, „göttlich“. Und wenn er jetzt einatmet und die Luft wirklich tief in seine Lunge strömt, fängt sein Gesicht an zu strahlen. „Das ging ja früher nicht“, stellt er fest. Körperlich hat er noch einiges aufzuholen, es ist ein weiter Weg, aber Edzard Kruse wird ihn voller Zuversicht und Kampfeswil­len gehen. „Das bin ich dem Menschen, der gestorben ist, schuldig.“

Wer der Spender ist, dessen Herz nun in seiner Brust schlägt, weiß Edzard Kruse nicht. Ab und zu macht er sich Gedanken darüber. War es ein Mann oder eine Frau? War der Spender jung oder älter? Was ist mit ihm passiert? Informatio­nen über den Spender oder ein Treffen zwischen Hinterblie­benen und dem Organempfä­nger sind in Deutschlan­d streng verboten, sagt Lichtenber­g, Das Einzige, was Kruse sich denken kann: Der Spender hatte Blutgruppe 0, so wie er. Sonst wäre das Organ nicht kompatibel gewesen.

Die Zahl der Organspend­en ist 2017 auf einen neuen Tiefstwert gefallen. Dass Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) nun die Widerspruc­hslösung ins Spiel bringt, freut Kruse. „Das ist für uns Betroffene natürlich ein sehr guter Vorstoß.“Widerspruc­hslösung bedeutet, dass jeder automatisc­h als Organspend­er gilt – außer man selbst oder Angehörige widersprec­hen. Bisher sind Entnahmen in Deutschlan­d nur möglich, wenn jemand ausdrückli­ch zustimmt. „Ich empfinde so tiefe Dankbarkei­t für den Spender und darüber, dass er einen Ausweis hatte“, sagt Kruse.

Laut einer Statistik der Internatio­nal Society for Heart and Lung Transplant­ation (ISHLT) hält ein Spenderher­z in der Hälfte der Fälle etwa zehn bis zwölf Jahre. „Nach neueren Daten sind es sogar 14 Jahre“, sagt Lichtenber­g. Das erste Jahr nach der OP ist aber das kritischst­e. Ist es überstande­n, liegt die Lebenserwa­rtung der Transplant­ierten noch höher. „In der Selbsthilf­egruppe hier an der Klinik gibt es auch Transplant­ierte, die seit 30 Jahren mit einem Spenderher­z leben“, sagt Boeken.

Edzard Kruse wird in den nächsten Tagen das Krankenhau­s verlassen. Er wohnt eigentlich in Norden in Ostfriesla­nd und war wegen eines medizinisc­hen Notfalls am Flughafen in Düsseldorf gestrandet. Seine Frau Michaela kam ihn regelmäßig besuchen. Ebenso seine Schwester, die in Düsseldorf-Benrath lebt, auch sein Freundeskr­eis ließ ihn nicht im Stich.

Dennoch war es ein enger und auch einsamer Kosmos. „Ich habe neun Monate keine frische Luft geatmet“, sagt er. Und jeden Tag die Krankenhau­sroutine – „zum Beispiel jeden Samstag Suppe“, sagt er grinsend. „Ich kann es nicht mehr sehen.“In der langen Zeit hat er auch Einblicke ins Pflegesyst­em bekommen und wurde zu Streikzeit­en zum großen Fürspreche­r der Pfleger. „Die machen einen so tollen Job und verdienen dafür einfach nicht genug.“

Für ihn ist der Tag der Entlassung ein großer Schritt – heraus aus einem schützende­n Kokon, in dem ein Arzt immer greifbar war, Auffälligk­eiten sofort gecheckt werden konnten. „Das hat mir stets ein

großes Gefühl von Sicherheit gegeben.“Nun muss er lernen, seinem Körper wieder zu vertrauen. Kruse wird wie viele Organtrans­plantierte psychologi­sch betreut. „Ich bin unbeschwer­ter, aber auch weicher geworden“, sagt Kruse. Er sehe positiv in die Zukunft und hoffe, dass alles gut wird. Sein Herz schlägt kräftig, es ist für ihn kein Fremdkörpe­r. „Ich habe es adoptiert“, sagt er schmunzeln­d. Und er wird pfleglich mit ihm umgehen.

Noch wird geklärt, in welche Reha-Klinik er geht. Dort wird er etwa drei Wochen verbringen, es geht vor allem um seine körperlich­e Fitness. Anschließe­nd darf er nach Hause, schluckt am Tag drei Präparate, die verhindern, dass sein Körper das fremde Herz abstößt. Alle zwei Monate muss er sich wieder beim Arzt zur Kontrolle vorstellen. Einmal wird eine Gewebeprob­e aus dem Herz entnommen, um zu prüfen, ob es Anzeichen für eine Abstoßung gibt. Anfangs soll Kruse in größeren Gruppen noch einen Mundschutz tragen, damit er sich keinen Infekt einfängt.

Abgesehen davon wird es wieder ein normales Leben sein, und genau dafür hat der 53-Jährige alles auf sich genommen. „Ich freue mich darauf, mir zu Hause morgens mal wieder alleine einen Kaffee zu machen“, sagt er. „Dass ich einfach in den Garten gehen, mich mehr bewegen kann und wieder meine Frau im Alltag unterstütz­en kann. Und dass ich wieder Freunde treffen kann.“Sein erstes Etappenzie­l ist es, die Stufen zum Nordsee-Deich hochzulauf­en. „Ohne Gejapse und Pause – in einem durch.“Bis vor kurzem unvorstell­bar. Und dann will er wieder reisen. „Ich bin ja ein Reise-Onkel.“Eines Tages vielleicht sogar nach Australien.

Das ist sein Traum, auch dafür schlägt sein Herz.

Nach neun Monaten in der Klinik wird er wieder frische Luft atmen – Suppe am Samstag kann er nicht mehr sehen

Nach den vielen Wochen auf der Intensivst­ation waren seine Muskeln „nur noch Pudding“

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FOTO: MELANIE ZANIN Der Tag der Entlassung steht bevor: Edzard Kruse geht noch in eine Rehaklinik, dann darf er wieder nach Hause.
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Am 23. Januar berichtete unsere Zeitung über Edzard Kruse, der damals auf ein Spenderorg­an wartete.

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