Mit deutschen Tugenden
Pragmatismus anstatt Schönspielerei – Bundestrainer Joachim Löw hat dem DFB-Team eine Sicherheitskur verordnet.
MÜNCHEN Wie ernsthaft und intensiv man sich beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) Gedanken über den Neuanfang gemacht hat, wurde aller spätestens nach dem Abpfiff deutlich. Ein Tor war zwar auch in der Nach-Nach-Spielzeit nicht gefallen, trotzdem dröhnte das Stück aus den Boxen in der Münchner Arena: die sogenannte Fußballhymne „Schwarz und Weiß“von Comedian Oliver Pocher. Man wollte das Publikum wohl nicht mit zu vielen
Wenn man sich neu erfindet, versucht man in der Regel einen Schritt nach vorne zu gehen, Löw geht lieber zwei nach hinten.
Neuerungen verstören. Gleichwohl war es schon ein Indiz der Neuausrichtung der Nationalmannschaft, dass man nicht schon während der 90 Minuten im Aufeinandertreffen mit Frankreich in der Nations League die Torhymne hörte.
Denn Bundestrainer Joachim Löw hat seiner Mannschaft nach dem Desaster bei der WM in Russland vor allem eine taktische Marschrichtung eingetrichtert: Sicherheit vor Spielerei. Man wollte sich nicht dafür feiern lassen, 0:1 verloren, aber tollen Fußball gezeigt zu haben, sondern mit einem 0:0 „absolut zufrieden“sein. Und das gegen den Weltmeister. Chapeau.
Natürlich waren alle Handlungsbeteiligten auf Seiten der deutschen Mannschaft darum bemüht, die Deutungshoheit über dieses Ergebnis zu erlangen. „Wir waren gut organisiert, wir haben kompakt gestanden, wir sind in keine Konter gelaufen, alle haben nach hinten gearbeitet“, verkündete Löw, als würde er vor seinem Lehrer stehen, von dem er Strafarbeiten wegen schlechten Benehmens aufgetragen bekommen hatte. Es waren die Dinge, die unter anderem bei der WM gefehlt hatten. Das kleine Einmaleins sozusagen.
Wenn man sich neu erfindet, versucht man in der Regel einen Schritt nach vorne zu gehen. Löw hat sich dafür entschieden, lieber zwei Schritte nach hinten zu gehen. Für den Moment, um Ruhe in die weiter aufgeheizte Stimmung rund um das Nationalteam zu bekommen, mag das durchaus clever sein. Visionär ist es in diesem Fall nicht. Man ist halt verwöhnt gewesen von einem Löw’schen-Spielstil, der sich einen feuchten Kehricht darum geschert hat, wie man eigentlich spielen sollte. Löw hat in der Nachfolge von Jürgen Klinsmann zur Überraschung vieler eindrücklich nachgewiesen, dass „ansehnlich“und „erfolgreich“auch für deutsche Fußballer durchaus umsetzbar ist.
Um das zu schaffen, ist erstens vonnöten, dass ein Team auf dem Platz steht, das füreinander kämpft, läuft und ackert. Zweitens, dass man einkalkuliert, dass etwas schiefgehen kann und trotzdem danach nicht alles in Frage gestellt wird. Da beide Fragen derzeit von Löw wohl nicht überzeugend beantwortet werden können, hat er sich eben für eine andere Möglichkeit entschieden: Pragmatismus. Und der lautet: zurück zu deutschen Tugenden. Was so viel heißt wie, über den Kampf ins Spiel zu finden. Für Teams mit limitierten spielerischen Fähigkeiten im Abstiegskampf ist das ein durchaus probates Mittel. Aber für „Die Mannschaft“, die in München vom Stadionsprecher nur noch als „Team Deutschland“vorgestellt wurde? Die Individualisten werden an die kurze Leine gelegt – es geht in erster Linie darum, nicht zu scheitern.
Dementsprechend sah das dann auch aus. Manuel Neuer stand fast ausschließlich im (eigenen) Strafraum – Ausflüge bis zur Mittellinie waren zumindest gegen Frankreich nicht möglich, weil vor ihm zu viele seiner Kollegen standen. Die Außenverteidiger Matthias Ginter und Antonio Rüdiger hatten die deutliche Vorgabe, sich mehr nach hinten, als nach vorne zu orientieren, was der Stabilität des Verbunds sichtlich gut tat. Beide machten eine starke Partie, besonders der Mönchengladbacher Ginter bewarb sich mit exzellenten Aktionen für weitere Einsätze. Jerome Boateng und Mats Hummels konnten sich so wieder ein paar offensivere Laufwege erlauben, ohne dass bei möglichen Ballverlusten
durch einen Konter der Franzosen direkt alles zusammenbrach. „Das war schon sehr ordentlich“, diagnostizierte dann auch Hummels. Ordentlich rustikal. So war der Fußball vor 2006 sehr oft. Und sehr oft war das auch erfolgreich. Weshalb es natürlich kein Frevel ist, sich darauf zu besinnen. Aber bei diesen personellen Möglichkeiten mutet es zumindest etwas merkwürdig an.
Frankreich war ein müder Weltmeister. Die Spieler waren erst deutlich später als die Deutschen in die Vorbereitung gestartet. Und bei der Equipe Tricolore gab es auch keinen Grund, grundsätzlich irgendetwas nachzuweisen. Im Gegensatz zur deutschen Auswahl, bei der Toni Kroos zu späterer Stunde im Regen von München nach 89 Minuten mit einer beherzten Grätsche den Ball eroberte: Seht her, wir haben verstanden! Das Team von Didier Deschamps dagegen war vor allem darum bemüht, als Sparringspartner eine vernünftige Figur abzugeben und den Anschein zu wahren, man nehme die neu geschaffene Nations League auch ernst. Also wirklich. Aber am Ende war es dann doch ein Freundschaftsspiel mit freundschaftlichem Ausgang für alle Beteiligten. „Deutschland“, resümierte Deschamps, „bleibt immer Deutschland. Die WM war nicht das wahre Gesicht.“
Das Problem für Löw ist, einer skeptischen Öffentlichkeit schnell Resultate liefern zu müssen. Das Selbstverständnis der Nationalmannschaft ist ungebrochen selbstbewusst. Natürlich nun mit etwas mehr Demut serviert. Aber ein Paradigmenwechsel ist unmittelbar nicht zu erkennen. Denn würde man wirklich auf die harte Tour einen Neustart erzwingen, würde das Deutschland wahrscheinlich deutlich weiter als aktuell auf Platz 15 in der Weltrangliste zurückwerfen. Die neue Spielergeneration ist schlichtweg noch nicht soweit, komplett zu übernehmen. Und so ist Löw vor allem als Moderator gefragt, die bei der WM unübersehbaren Gräben in der Mannschaft zu kitten. Er muss, wie es unlängst Berti Vogts gefordert hat, den Spielern wieder vermitteln, dass es eine Ehre ist, für diese Auswahl zu spielen und kein Selbstzweck. Vieles ist ungelöst. Gibt es nun wirklich keine Grüppchen mehr? Gehen nun die Etablierten und die Jungen, die Modebewussten, und auch die Bodenständigen, ja, diese Kategorien gibt es alle innerhalb des Gebildes, nun Hand und Hand über das Spielfeld?
Die Spieler haben auf jeden Fall öffentlich klare Bekenntnisse zu Löw abgelegt. Jedenfalls Hummels, eine Art selbsternannter Klassensprecher, fühlt sich in seiner Rolle als Führungsspieler dazu aufgerufen, den Neustart zu loben. „Der Trainer hat die richtigen Worte gefunden.” Thomas Müller fand auch Vieles vielversprechend, sah aber auch noch deutlich Luft nach oben: „Wir wissen, dass noch Arbeit auf uns wartet.”
Die Arbeit geht schon am Sonntag in Sinsheim weiter. Dann heißt der Gegner Peru. Ein Kaliber, mit dem Deutschland, in seiner bemitleidenswerten Verfassung bei der Weltmeisterschaft, größere Probleme bekommen würde. Doch nun wird ja alles besser.