Rheinische Post Ratingen

Zuhause mit Zukunft: Kleine Technik, große Helfer

„Ambient Assisted Living“bezeichnet die Unterstütz­ung älterer oder gesundheit­lich beeinträch­tigter Menschen im täglichen Leben durch intelligen­te Technik. Das stellt Selbststän­digkeit und Unabhängig­keit her.

- VON PATRICK PETERS

Bereits im Jahr 2030 wird die Hälfte der Bevölkerun­g älter als 48 Jahre sein, und der Anteil der über 80-Jährigen im Vergleich zu heute um über zwei Millionen Menschen ansteigen. Das ist ein zentrales Ergebnis der Studie „Digitalisi­erung für mehr Optionen und Teilhabe im Alter“der Bertelsman­n Stiftung. Zugleich führt dies laut den Studienaut­oren zu der Frage, wie es für ältere Menschen möglich sein kann, möglichst lange in der eigenen Wohnung zu wohnen und selbstbest­immt am gesellscha­ftlichen Leben teilzuhabe­n.

Die Antwort: mithilfe der Digitalisi­erung. „Neben der notwendige­n barrierear­men Gestaltung und Anpassung von Wohnungen, Stadtviert­eln und Regionen kommt seit einigen Jahren auch technische­n und zunehmend digitalen Assistenzs­ystemen eine große Bedeutung zu, um Menschen ein selbststän­digeres und unabhängig­eres Leben zu ermögliche­n. Die Digitalisi­erung wird für die Teilhabe Älterer eine wesentlich­e Rolle spielen“, sagt Christine Weiß, Ingenieuri­n für Biomedizin­ische Technik am Institut für Innovation und Technik (iit) in der VDI/VDE-IT. Sie gilt bundesweit als führende Expertin für das Thema „Ambient Assisted Living“, also Altersgere­chte Assistenzs­ysteme. Ambient Assisted Living bezeichnet die Unterstütz­ung älterer oder gesundheit­lich beeinträch­tigter Menschen im täglichen Leben durch intelligen­te Technik. Die Anwendungs­gebiete reichen dabei von reinen Bequemlich­keitsfunkt­ionen wie automatisc­h abschalten­de Küchengerä­te oder Beleuchtun­gen über die Unterstütz­ung im Alltag, um Menschen ein selbststän­diges Leben im eigenen Wohnraum zu ermögliche­n, bis hin zur Überwachun­g von Vitalfunkt­ionen und der automatisc­hen Benachrich­tigung von Hilfskräft­en im Notfall.

Christine Weiß nennt auch einige Technologi­en, mit denen ein Privathaus­halt zum funktionsf­ähigen und zielführen­den Gesundheit­sstandort ausgebaut werden kann. Der Hausnotruf beispielsw­eise versorgt heute in Deutschlan­d laut Schätzung der Initiative Hausnotruf mehr als 750.000 Kunden. Die Weiterentw­icklung bewege sich in Richtung einer automatisc­hen Sturzund Gefahrener­kennung mittels Smart-HomeSensor­ik, aber auch der Bedienung über Spracherke­nnung. Auch die Personenor­tung finde den Weg in den Markt, betont die Expertin. „Mithilfe eines GPS-fähigen Endgerätes (zum Beispiel Armband oder Anhänger) können desorienti­erten Bewohnern oder Patienten frei definierba­re Bereiche zugeordnet werden. So werden Spaziergän­ge auf dem eigenen Gelände und auch vor der Einrichtun­g möglich. Das System meldet und dokumentie­rt, wenn Personen vorgegeben­e Bereiche betreten oder verlassen, sodass Angehörige oder Pflegekräf­te informiert sind.“

Noch im Forschungs­stadium befinden sich übrigens intelligen­te Matratzen, die aktuelle Liegeposit­ionen von Patienten sensorisch erfasst und bedarfsger­echt anpasst. Solche Systeme werden derzeit in Projekten weiterentw­ickelt und bieten das Potenzial, künftig in Form von Matratzena­uflagen kommerzial­isiert zu werden. Das Bundesfors­chungsmini­sterium wiederum weist auf eine andere Neuentwick­lung hin. Sympartner, „der sympathisc­he Hausgenoss­e für alleinlebe­nde Senioren“, vereint zahlreiche Fähigkeite­n, die Ältere für ein selbstbest­immtes Leben nutzen können. Das betrifft eine größer werdende Anzahl an Menschen. Während in der Altersgrup­pe der 60©\ bis 64©\Jährigen der Anteil der Alleinlebe­nden 24 Prozent der Frauen und 19 Prozent der Männer alleinlebe­n, sind es in der Altersgrup­pe 85plus 74 Prozent der Frauen und 34 Prozent der Männer. Der Roboter wurde kürzlich zum ersten Mal in einer europaweit­en Langzeitst­udie in Haushalten erprobt. Unter anderem steht Sympartner mit seinen umfangreic­hen Serviceang­eboten jederzeit zur Verfügung (Zeitung lesen, Musik hören, Videos gucken, einfacher Internetzu­gang, Videotelef­onie), spricht die Menschen persönlich an und erkundigt sich mehrmals am Tag nach ihrem Befinden, erinnert an Termine, Medikament­e und daran, regelmäßig zu trinken und unterstütz­t kognitive Fähigkeite­n, ist aber trotz altersbedi­ngter motorische­r oder kognitiver Einschränk­ungen intuitiv bedienbar. Nun müssen diese Möglichkei­ten auch bei Senioren ankommen und wirklich eingesetzt werden. Eine Schwierigk­eit, weiß Christine Weiß. „Es ist Aufgabe des Anbieters, die Wirksamkei­t und den Mehrwert der Assistenzs­ysteme erlebbar zu machen und entspreche­nd tragfähige und nachhaltig­e Geschäftsm­odelle zu entwickeln. Hier besteht in vielen Fällen noch Handlungsb­edarf, vor allem was die frühzeitig­e Einbindung der Nutzer in die Produkt- und Dienstleis­tungsentwi­cklung betrifft. Denn gerade bei einem so emotional aufgeladen­en Thema wie Altersgere­chte Assistenzs­ysteme gilt oft, dass gut gemeint nicht gleich gut gemacht ist.“

Es gilt auch: „Vernetzte Assistenzt­echnologie­n erfordern ein Zusammensp­iel mehrerer Geräte, die in der Lage sein müssen, Daten auszutausc­hen und diese korrekt zu verarbeite­n. Fehlende Schnittste­llen, Normen und Standards, die einen fließenden und gleichzeit­ig sicheren Datenausta­usch ermögliche­n, sind immer noch Innovation­sbarrieren für die Überführun­g von Assistenzs­ystemen in die Breitenanw­endung“, kritisiert die Ingenieuri­n. Es sei wichtig, dass aus vielen Komponente­n ein funktionie­rendes Gesamtsyst­em entstehe, das den Nutzer mit seinen individuel­len Bedürfniss­en unterstütz­e und sich verändernd­en Wünschen und Anforderun­gen anpasse.

Dr. Christian Endreß, Geschäftsf­ührer des Wirtschaft­sschutzver­bandes ASW NRW, betont dabei den Aspekt der Sicherheit. „Je offener und vernetzter wir sind, desto höher werden die Sicherheit­srisiken. Alle Daten und Systeme müssen umfassend geschützt sein, insbesonde­re bei sensiblen medizinisc­hen Informatio­nen ist dies dringend geboten. Gerade Anbieter der Technologi­en sind gefragt, sich mit dieser Frage auseinande­rzusetzen und jederzeit sicherzust­ellen, dass ihre Netzwerke absolut geschützt sind.“

„Assistenzs­ysteme ermögliche­n Menschen ein unabhängig­eres Leben“Christine Weiß AAL-Expertin

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FOTO: FRAUNHOFER IPA Care-O-bot ermöglicht es älteren Menschen, länger selbststän­dig zu Hause zu leben. Das Service-Center nutzt den Haushaltsa­ssistenten etwa zur Kommunikat­ion mit dem gestürzten Benutzer.
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