Deutschland ist besser als sein Ruf
Die Deutschen machen sich Sorgen – über die Regierung, den Staat, die Zukunft. Dabei steht das Land so stark und glänzend da wie noch nie in seiner Geschichte. Wirtschaftlich, sozial und kulturell.
Die große Koalition stolpert von Krise zu Krise, in Chemnitz jagt ein rechtsradikaler Mob Ausländer, und die populistische AfD überholt in Umfragen die älteste deutsche Volkspartei, die SPD. Nur jeder Dritte der so genannten Generation Mitte (30 bis 59-Jährige) ist nach einer neuen Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach der Meinung, in einer guten Zeit zu leben. Dagegen finden 42 Prozent die gegenwärtigen Verhältnisse äußerst schwierig.
Was ist los in Deutschland? Von außen ist die Sicht auf unser Land jedenfalls gänzlich anders. So sprach das angesehene britische Wirtschaftsmagazin „Economist“noch vor Kurzem von „Cool Germany“, was sich am besten mit „spannendes Deutschland“übersetzen lässt. Und es empfahl die Bundesrepublik gar als „Modell für den Westen“– weltoffen, fortschrittlich, tolerant und angesagt.
Tatsächlich entwickeln sich derzeit viele Dinge zum Guten. Auf 2,2 Millionen Menschen wird die Zahl der Arbeitslosen im kommenden Jahr sinken, prognostizieren die Forscher des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg. Noch zu Beginn der Regierung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) im Jahr 2005 waren es mehr als fünf Millionen.
Nun ist eine gute wirtschaftliche, soziale und kulturelle Lage selten das Verdienst der aktuellen Regierung. Doch es gelingt selbst der chaotischen großen Koalition derzeit nicht, das gegenwärtig positive Bild des Landes nachhaltig zu stören. Die Generation der Mitte, wie das Allensbacher Institut die „Leistungsträger“der Gesellschaft nennt, hat es nämlich weit gebracht. Die Finanzund Schuldenkrise ist überwunden, die Auftragsbücher voll, der Arbeitsmarkt in vielen Teilen des Landes leergefegt. Und so urteilen diese Leistungsträger über ihre eigene Situation wesentlich positiver als über die allgemeine Lage. 42 Prozent der Befragten geht es besser als noch vor fünf Jahren, während es im Jahr 2013 nur 35 Prozent waren. Und wirklich schlechter empfinden nur 18 Prozent (2013: 23 Prozent) die eigene Situation.
Dieses Gefühl trügt offenbar nicht. Es wird gestützt durch eine Menge von Daten und Fakten. Erst vor wenigen Tagen wurde der Index der menschlichen Entwicklung der Uno veröffentlicht, bei dem Lebenserwartung, Pro-Kopf-Einkommen und Schulzeit international verglichen werden. Deutschland steht hier an fünfter Stelle – nach Norwegen, der Schweiz, Australien und Irland. Und noch vor so reichen Ländern wie der Niederlande, Schweden, Dänemark, Kanada, USA oder Großbritannien. Und Deutschland zählt nicht nur zu den Besten. Es verringert auch die Differenz zu Primus Norwegen. Seit 1990 hat es den Abstand halbiert.
Auch in anderen Rankings schneidet Deutschland hervorragend ab. So steht die Bundesrepublik unter 137 Ländern bei der globalen Wettbewerbsfähigkeit an fünfter Stelle, wie das Weltwirtschaftsforum in Davos für 2018 ermittelt hat. Untersucht werden hier die politischen Institutionen, der Korruptionsgrad, die Effizienz des Regierungssystems, der Rechtsstaat, die Infrastruktur, das Gesundheitssystem, die Bildung, aber auch die Funktionsfähigkeit von Märkten, die Aufstiegschancen und Flexibilität der Beschäftigten. Darüber hinaus geht es um ein stabiles Finanzsystem, den Grad der Innovationsfähigkeit sowie um die Leistungsfähigkeit der Unternehmer.
Überall erreicht Deutschland Spitzenwerte. Nur in der Schweiz und den USA sind die Unternehmer und Konzerne noch innovativer als in Deutschland. Was die Qualität der Schulen und Hochschulen, der beruflichen Bildung sowie der Güter-, Arbeits- und Finanzmärkte betrifft, ist die Bundesrepublik auf Platz sechs. Nur in der Infrastruktur ist das deutsche Ranking mit Platz elf zweistellig, aber immer noch in der Spitzengruppe.
Doch Deutschland ist nicht nur wirtschaftlich eine Macht. Drei Jahrzehnte nach der Einheit ist die Hauptstadt Berlin derzeit wohl die angesagteste Partystadt des Planeten. Zugleich tummeln sich hier nach Silicon Valley, Tel Aviv und London die meisten Internet-Start-ups, während mit den Berliner Philharmonikern, drei weltberühmten Opern, mehreren Spitzentheatern, einer ausgeprägten Literatur- und Buchszene sowie drei Top-Universitäten ein kulturelles und wissenschaftliches Zentrum entstanden ist, das an die großen Zeiten der Stadt im Kaiserreich und der Weimarer Republik erinnert. Damals war Berlin die Hauptstadt der globalen Kulturund Wissenschaftsszene.
Und auch die anderen Metropolen stehen der Hauptstadt nicht nach. Hamburg brilliert als Logistik-, Start-up- und Kulturzentrum, München als Konzernsitz und High-Tech-Schmiede, Stuttgart als Werkbank des Landes, Frankfurt als Finanzzentrum und die Rhein-Schiene um Bonn, Köln und Düsseldorf steht für die neue kreative Klasse.
Selbst das Verhältnis zwischen Mehrheitsgesellschaft und Migranten ist viel besser als gefühlt. So erreicht der Integrationsklima-Index, den der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration herausgibt, 2018 mit knapp 64 von 100 Punkten einen recht hohen Wert, auch wenn die Akzeptanz von Zuwanderern leicht gesunken ist. „Es läuft im Alltag recht gut“, fasst Studienautorin Claudia Diehl das Ergebnis pragmatisch zusammen.
Es bleibt die Frage, warum die Menschen hier trotzdem so pessimistisch sind. Ist es die zunehmende Alterung der Gesellschaft, die undurchsichtige Weltlage oder sind es fehlende Orientierungen? Eine ähnliche Situation war Ende der 80er Jahre schon einmal gegeben. Damals hatte Deutschland zwar die staatlichen Haushalte saniert und das Wachstum beschleunigt, dennoch nahm die Unzufriedenheit hohe Werte an. Bis der Fall der Mauer kam – und die Deutschen „das glücklichste Volk der Welt“wurden.
Der „Economist“nennt Deutschland ein Modell für den Westen – weltoffen, fortschrittlich und tolerant