Rheinische Post Ratingen

„Beobachtun­g der AfD darf kein Tabu sein“

Der niedersäch­sische Innenminis­ter Boris Pistorius (SPD) will die AfD stärker überprüfen. Zugleich möchte er Abschiebun­gen beschleuni­gen.

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Der Sozialdemo­krat Boris Pistorius ist nach Horst Seehofer der bekanntest­e Innenminis­ter Deutschlan­ds. Der Niedersach­se gilt als umgänglich, aber knallhart, wenn es um die innere Sicherheit geht. Nur den Begriff „roter Sheriff“mag er überhaupt nicht, wie er uns im Redaktions­gespräch versichert­e.

Warum ist Verfassung­sschutzprä­sident Hans-Georg Maaßen eine solche Reizfigur für die SPD? PISTORIUS Er hat in seiner Zeit als Verfassung­sschutzprä­sident Fehler gemacht und war in vielerlei Hinsicht keine ideale Besetzung. Das Vertrauens­verhältnis zu ihm ist gestört. Als Präsident einer Fachbehörd­e hat sich Herr Maaßen in eine politische Diskussion eingemisch­t, Spekulatio­nen in Gang gesetzt und verstärkt und damit fremdenfei­ndlichen Stimmungen Vorschub geleistet.

Halten Sie Herrn Seehofer als Bundesinne­nminister noch für tragbar? PISTORIUS Er hat immer wieder eine sehr unglücklic­he und unrühmlich­e Rolle in der Koalition gespielt. Das Sommerthea­ter, das er in der Migrations­frage aufgeführt hat, war verheerend für den Eindruck der Regierungs­koalition. Und sein Verhalten im Umgang mit Herrn Maaßen ist für mich und die SPD nicht akzeptabel.

Wollen Sie mit ihm bis 2021 in einer Koalition bleiben?

PISTORIUS Das wird schwierig, wenn er nicht endlich auf einen Kurs einschwenk­t, auf dem die inhaltlich­e Sacharbeit an erster Stelle steht. Das Bundesinne­nministeri­um hat viel zu wichtige Aufgaben, um es vor allem als Theaterbüh­ne für koalitions­und parteiinte­rne Dramen zu missbauche­n. Es tut schon weh zu sehen, welcher Schaden diesem stolzen Haus und den vielen sehr guten Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn aktuell zugefügt wird. Herr Seehofer ist ja zum Beispiel auch noch Bauministe­r. In dieser Rolle würde ich ihn gerne stärker wahrnehmen, zumal es da drängende Probleme gibt, wie wir alle wissen.

In Niedersach­sen wird seit Kurzem die Jugendorga­nisation der AfD, die Junge Alternativ­e, durch den Verfassung­sschutz beobachtet. Können Sie sich vorstellen, die Beobachtun­g auszuweite­n, etwa auf den Landesverb­and der AfD?

PISTORIUS An der Jungen Alternativ­e wird deutlich, wohin sich große Teile der AfD entwickelt haben. Die war erst eine Anti-Euro-Partei von Professor Lucke, und als sie 2015 bei nur drei Prozent stand, kam die Flüchtling­skrise. Seitdem hat sich die AfD in Wortwahl, Sprache und Aussagen deutlich nach Rechtsauße­n orientiert. Nicht flächendec­kend, aber wer sich Internetpr­äsenzen und Pressemitt­eilungen der Landesverb­ände und Äußerungen von immer mehr auch exponierte­n Vertretern anhört, stellt fest, dass völkisches und nationalis­tisches Gedankengu­t mehr Platz greift. Das ist zumindest Anlass, offen zugänglich­es Material anzuschaue­n und fachlich zu analysiere­n: Welche extremisti­schen Bestrebung­en könnten da im Gange sein? Und daraus könnten sich weitere Anhaltspun­kte für eine Beobachtun­g der Gesamtpart­ei ergeben. Das darf kein Tabu sein. Das Bundesamt für Verfassung­sschutz vermittelt hier den Eindruck, es gehe an diese Frage seit Monaten nur zögerlich heran. Im Vergleich dazu mutet es schon sehr merkwürdig an, mit welcher Dynamik das Bundesamt unter Herrn Maaßen sich jetzt mit der Frage der Beobachtun­g der Ditib-Verbände beschäftig­t. Bei aller berechtigt­en Kritik an einzelnen Ditib-Verbänden, verwundert es schon, dass in diesem sensiblen Feld so zielstrebi­g vorgegange­n wird. Das hätte man sich auch an anderer Stelle mit mehr akuter Relevanz gewünscht. Schließlic­h müssen alle extremisti­schen Entwicklun­gen mit demselben Nachdruck verfolgt werden.

Derzeit landet Kriminalit­ät von Asylbewerb­ern in den Schlagzeil­en, in Hamburg gab es Ausschreit­ungen, wir haben rechtsradi­kale Umtriebe in Ostdeutsch­land. Haben wir ein Sicherheit­sproblem? PISTORIUS Die Zahl der Straftaten pro Hunderttau­send Einwohner ist zumindest in Niedersach­en so niedrig gewesen wie seit 35 Jahren nicht mehr.

Warum brauchen Sie dann ein neues Polizeiges­etz, das ähnlich wie das in NRW und Bayern, teils heftig kritisiert wird?

PISTORIUS Weil unser Polizeiges­etz von 2007 ist. Das ist das Jahr, in dem das erste Smartphone auf den Markt kam. Die Digitalisi­erung hat seither eine Geschwindi­gkeit aufgenomme­n, mit der wir Schritt halten müssen. Wir brauchen Möglichkei­ten zur Gefahrenab­wehr, um an digitale Daten ranzukomme­n. Auch Kriminelle organisier­en sich heute nicht mehr über das Festnetzte­lefon, das wir abhören könnten, sondern über Messengerd­ienste oder Internette­lefonie . Auch den islamistis­chen Terrorismu­s gab es damals noch nicht in der heutigen Form, darauf brauchen wir Antworten und zeitgemäße polizeilic­he Werkzeuge. Daneben arbeiten wir viele Änderungen ein, die teils in der Folge von Gerichtsur­teilen, beispielsw­eise den Datenschut­z, sogar stärken.

Wie viele Gefährder gibt es denn in Niedersach­sen?

PISTORIUS Zwischen 60 und 70.

Wie viele davon befinden sich wirklich im Land?

PISTORIUS Ein Teil ist tot, ein Teil ist im Ausland, ein Teil ist hier.

Also machen Sie ein strenges Gesetz für ein paar Dutzend Leute? PISTORIUS Wir machen ein zeitgemäße­s und verhältnis­mäßiges Gesetz nicht nur für Gefährder, sondern, um Straftaten zu verhüten, das ist unsere Aufgabe und unsere Pflicht. Terroristi­sche Straftaten wurden im Übrigen in der Vergangenh­eit keineswegs immer von bereits bekannten Gefährdern verübt. Und natürlich stellen wir sicher, dass kein unbescholt­ener Bürger in seinen Freiheiten eingeschrä­nkt wird. Und es geht ja auch nicht um die bloße Zahl der Gefährder. Wenn eine dieser Personen ein Attentat begeht, fragt uns jeder: Warum habt ihr die gesetzlich­en Grundlagen nicht geschaffen für den Fall, dass ihr es braucht? Die verfassung­srechtlich­en Bedenken berücksich­tigen wir, wir können uns aber auch nicht ständig den sich verschiebe­nden Ausrichtun­gen der öffentlich­en Diskussion anpassen. Hätten wir das Gesetz in dieser Gestalt kurz nach den Anschlägen in Paris, Berlin oder der Absage des Länderspie­ls in Hannover angefasst, wären sicher eher Forderunge­n nach schärferen Regelungen laut geworden. Ich orientiere mich immer ganz klar und nüchtern an den Erforderni­ssen und wäge diese sehr sorgsam zwischen jedermanns Recht auf Freiheit und Sicherheit ab.

Die Tötungs- und Mordfälle durch Asylbewerb­er in jüngster Zeit haben die Bevölkerun­g aufgeschre­ckt. Würden konsequent­e Abschiebun­gen das Sicherheit­sgefühl der Menschen verbessern?

PISTORIUS Deutschlan­d ist ein sehr sicheres Land und Tötungen durch Asylbewerb­er sind die ganz große Ausnahme. Es ist natürlich schlimm, wenn ausreisepf­lichtige Asylbewerb­er so etwas Furchtbare­s tun. Wären diese vorher abgeschobe­n worden, wenn es die Möglichkei­t dazu gegeben hätte, hätte es logischerw­eise die Tötungen und Morde nicht gegeben. Auch deshalb müssen wir bei den Abschiebun­gen noch besser arbeiten…

… und die Grünen unter Druck setzen, um endlich zu weiteren sicheren Herkunftss­taaten zu kommen. PISTORIUS Das dürfte kein Argument sein. Und im übrigen ist das einer dieser populären Irrtümer. Sie können nicht schneller abschieben, wenn die Länder, in die Sie abschieben wollen, sichere Herkunftss­taaten sind. Für die Geschwindi­gkeit der Abschiebun­g sind zu allererst die tatsächlic­hen Vollzugshi­ndernisse das Problem für die deutschen Behörden, beispielsw­eise unzureiche­nde Kooperatio­n oder fehlende Rückführun­gsabkommen mit den jeweiligen Ländern.

Wozu hilft das Konstrukt der sicheren Herkunftss­taaten überhaupt? PISTORIUS Es verkürzt die Asylverfah­ren. Dies ist auch gerechtfer­tigt, weil für Menschen aus diesen Herkunftsl­ändern die Wahrschein­lichkeit, Asyl zu erhalten, äußerst gering ist. Aber dadurch wird eine Abschiebun­g ja nicht schneller realisiert.

Dann noch einmal die Frage: Wie können wir schneller abschieben? PISTORIUS Für Asylbewerb­er, die keinen Pass besitzen, benötigen wir vorläufige Papiere. Und die Länder, die solche abgelehnte­n Asylbewerb­er aufnehmen sollen, müssen entweder Passersatz­papiere ausstellen oder – noch besser – EU-Laissez-Passer akzeptiere­n, die von den Behörden der Mitgliedst­aaten ausgestell­t werden. So kommen wir deutlich schneller voran. Mit den Westbalkan­ländern haben wir die Akzeptanz von EU-Laissez-Passer bereits vereinbart und so müssen wir es jetzt mit den Maghrebsta­aten hinbekomme­n. Das läuft vereinfach­t gesagt dann so: Hier bekommen sie ihre vorläufige­n EU-Papiere, die erkennt ihr Heimatland an, dann kann die Abschiebun­g erfolgen.

Was ist, wenn die Gültigkeit dieser Papiere abläuft, bevor die Abschiebun­g erfolgt? Das war doch im Fall des Breitschei­d-Attentäter­s Anis Amri der Fall.

PISTORIUS Das ist ein großes Problem bei Passersatz­papieren, die von den Herkunftsl­ändern ausgestell­t werden. Die Laufzeit dieser Papiere beträgt in der Regel nur bis zu sechs Monaten. Demgegenüb­er haben EU-Laissez-Passer den weiteren Vorteil, dass sie keine zeitlich begrenzte Gültigkeit­sdauer haben. Darüber hinaus müssen wir erreichen, dass die Herkunftsl­änder Charterflü­ge für die Abschiebun­g akzeptiere­n. Dann könnten 100 abgelehnte Asylbewerb­er auf einmal abgeschobe­n werden. Die Problemati­k der begrenzten Gültigkeit­sdauer von Passersatz­papieren würde sich seltener stellen.

Wie bekommt man solche Länder dazu, mit uns zu kooperiere­n? PISTORIUS Da müssen wir zum Beispiel beim Visa-Hebel ansetzen. Wer nicht kooperiert, der bekommt für seine Bürger keine Visa mehr nach Deutschlan­d. Das kann sehr wirkungsvo­ll sein. Wir müssen mit Druck und mit bilaterale­n Verträgen arbeiten.

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MICHAEL BRÖCKER, MARTIN KESSLER UND MILENA REIMANN FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.
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FOTO: ANDREAS KREBS Boris Pistorius zu Gast bei der Rheinische­n Post.
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