Rheinische Post Ratingen

Konkrete Poesie muss den Mut zum Wegräumen haben

- VON CLAUS CLEMENS

Am zweiten Abend des Poesiefest­s im Heine-Haus kam Unruhe auf. Der 92-jährige Franz Mon, einer der Gründervät­er der Konkreten Poesie, war plötzlich erkrankt und konnte nicht kommen. Nun sorgte man sich um das für Sonntagmit­tag zugesagte Erscheinen von Eugen Gomringer. Der ist noch ein Jahr älter und hat außerdem wohl in den letzten Monaten die größte Aufregung seines literarisc­hen Lebens erfahren müssen. 2011 erhielt er in Berlin den Alice-Salomon-Preis für Poetik der gleichnami­gen Hochschule. Dort entschloss man sich, ein vom Künstler ausgewählt­es Gedicht auf der Fassade anzubringe­n. Das aus 20 spanischen Worten und nur wenigen Schlüsselb­egriffen bestehende Poem „avenidas“führte bei den Studierend­en zu einer auch medialen Tollhaus-Kampagne um Sexismus. Jetzt verschwind­et das Gedicht von der Wand. Ende gut, alles wenig erfreulich.

Umso schöner dann, dass Eugen Gomringer zusammen mit seiner Frau den Weg zur Poetik-Matinee nach Düsseldorf fand. Und sich, bestens gestimmt, nur eine klitzeklei­ne Anspielung auf den Berliner Skandal erlaubte. Mit „liebe Menschen und Menschinne­n“begrüßte er die überaus zahlreiche­n Poesie-Freunde auf der Bolker Straße. Sonderappl­aus. Im Vorwort zu seiner gerade frisch bei Reclam erschienen Anthologie „konkrete poesie“heißt es: „konkrete poesie ist überschaub­ar, nachvollzi­ehbar, provoziere­nd und, vielleicht ihr größter vorzug, einfach, das heißt rätselhaft und poetisch.“Wenig später folgt eine deutliche Arbeitsanw­eisung für Dichter: „schreibe einen text. jetzt. entferne sämtliche lügen.“

Derartige Sätze von Gomringer oder auch von Mon nennt der weitaus jüngere Kollege Michael Lentz „Inkunabeln der Poesie“. Ein weiteres Beispiel hierfür: „verstummen soll, beim übertritt der schwelle, all dein geschwätz“. Wie also bringt man einen Dichter der konkreten Poesie zum Reden im öffentlich­en Raum?

Michael Lentz hatte den passenden Auslöser parat: ob beim Verfassen konkreter Poesie zuerst die Fülle da wäre und erst dann der Kern, wollte er wissen. Eugen Gomringer antwortete, dass man immer den Mut zum „Wegräumen“haben müsse, ähnlich den großen Malern wie Gerhard Richter. Bei deren Bildern bleibe am Ende fast nur die Grundierun­g übrig. Dann folgt sein persönlich­es Credo: „Alles ist schön, und das Gegenteil ist auch immer schön“.

Gomringers fünf Jahrzehnte jüngere Tochter Nora geht andere, nicht weniger erfolgreic­he Wege. Mit ihrer Geschichte um eine Autorin, die den tödlichen Sturz eines 13-Jährigen aus einem Hochhaus untersucht, gewann sie 2015 in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis. Auch sie wird demnächst zu einer Lesung im Heine-Haus nach Düsseldorf kommen.

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