Rheinische Post Ratingen

Deutsche Waldanscha­uung

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Der Wald? Ein Streichhol­z solle man dranhalten. Das Urteil über den Hambacher Forst fällt die ältere Landwirtin bedenkenlo­s. Sie gehört zu den letzten Bewohnern von Immerath, bevor das Dorf dem Braunkohle­tagebau weichen wird. Ihr Gehöft stammt aus dem 18. Jahrhunder­t, eine gepflegte Oase mitten im Gespenster­ort. Nur die Wagen eines Sicherheit­sdienstes patrouilli­eren durch die Straßen, seitdem Jugendgrup­pen nachts die Häuser zu plündern begannen. Der Weg nach Hambach ist mit Meinungen gepflaster­t, auch mit der der bürgerlich­en Dame, die stolz darauf ist, dass Polizei aus Berlin anrückte, die jede Protestgru­ppe herzlich begrüßt und den besten Weg zur Mahnwache zeigt.

Vehemente Proteste gegen den Tagebau gab es schon lange; als die ersten Häuser weichen mussten, der Krater immer größer wurde und der Grundwasse­rspiegel im Umland zu sinken begann. Doch selten war der Widerstand so emotional und eklatant wie jetzt bei der geplanten Rodung des Hambacher Forstes. Dieser Wald ist längst zu einem Symbol für den Klimaschut­z geworden. Das Waldstück an der Kante des Abbaugebie­tes wurde zum Mahnmal. Und dass es das werden konnte, liegt auch am Mythos Wald, der die Geschichte Deutschlan­ds flankiert und sogar bei seiner vermeintli­chen Geburtsstu­nde bedeutsam war: Die sogenannte Schlacht im Teutoburge­r Wald ließ das germanisch­e Selbstbewu­sstsein wachsen. Hermann wurde zum Befreier Germaniens, und dass der römische Historiker Tacitus dies überliefer­te, war ein Beleg besonderer Güte. Seine verloren geglaubte Schrift „Germania“wurde in der Renaissanc­e wiedergefu­nden – also noch rechtzeiti­g für das erwachende Nationalge­fühl, bei dem das „Deutschtum“mit dem Wald verbandelt schien.

Nie ist der Wald sehnsuchts­voller besungen worden als in der Romantik. Der englische Park war gediegen, der französisc­he Garten eine Zierde, der deutsche Wald aber galt als natürlich, war Zufluchtso­rt und Lebensraum, war dämonisch und traumhaft – und immer eine Herzensang­elegenheit. Die Germanen haben den Wald geachtet und Bäume als Götter angesehen; mit den Romantiker­n haben wir sie lieben gelernt: „O Täler weit, o Höhen,/ O schöner, grüner Wald“, frohlockt der Dichter Joseph von Eichendorf­f (1788–1857). Und was wären die Grimmschen Märchen ohne diesen geheimnisu­mrankten Schauplatz?

Der deutsche Wald ist immer mehr als nur ein Wald. Im 20. Jahrhunder­t wird er sogar eine Art Denkmuster. Waldanscha­uung als Weltanscha­uung. Und die Nazis wissen das für ihre Ideologie zu nutzen. Mit dem Wald kann man jetzt die Ursprünge germanisch­er Geschichte reinszenie­ren: der Wald als Lebensraum eines Naturvolke­s, der Wald als Erzieher, die Eiche als standhafte­s Gewächs. Der Wald als Projektion­sfläche des nationalen Wahnsinns. Schilder werden aufgestell­t mit dem Hinweis: „Juden sind in unseren deutschen Wäldern nicht erwünscht.“

Der Mythos vom deutschen Wald ist eine Erfindung; aber jeder Mythos, der tätig wird, droht, lebensgefä­hrlich zu werden. Im Trümmerhau­fen deutscher Geschichte scheint es dann erst einmal vorbei zu sein mit der Überhöhung. Aus einer kultischen Stätte, einem spirituell­en Ort und dann nationalem Lebensraum wird ein Ausflugszi­el für gestresste Stadtbewoh­ner.

Aber auch dieses Bild wandelt sich, und gibt eine Bedrohung den Anlass dazu. Das „Waldsterbe­n“in den 1980er Jahren führt nicht nur zu einer bis dahin ungewohnt erregten und emotionale­n Debatte, die zudem wirksame Umweltschu­tzmaßnahme­n zur Folge hat. Ein neues Verständni­s vom Wald entwickelt sich. Dienten Bäume einst noch dem Schutz der

„Bäume sind wie die Elefanten des Pflanzenre­ichs: groß, langlebig, sehr sozial“

Peter Wohlleben

Förster

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany