Rheinische Post Ratingen

„Lass sie lesen“

Die RP-Autorinnen Kristina Dunz und Eva Quadbeck haben eine Biografie über Annegret Kramp-Karrenbaue­r geschriebe­n. Auszüge aus dem Buch, das am 12. Oktober erscheint.

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Kindheit – „Lass sie lesen“

Nach dem Mittagesse­n hat es sich die Zehnjährig­e auf dem Sofa bequem gemacht. Ihre Beine ruhen angewinkel­t auf dem Sitzkissen der Couch. Das Mädchen hat das Kinn auf die Brust sinken lassen und sich in ein Buch vertieft. Das Klappern in der Küche hört es nicht. Die Mutter taucht mit feuchten Spülhänden im Türrahmen auf, ein Geschirrtu­ch in der Hand. Sie ruft: „Annegret, abtrocknen!“Immer dasselbe, auf diesem Ohr ist das Kind taub. In der Küche türmt sich der Abwasch der Großfamili­e mit drei Mädchen und drei Jungen, aber die jüngste Tochter hat Besseres zu tun. Es duftet noch nach geschmorte­m Fleisch und Soße, es ist Sonntag. Annegret verschling­t jetzt aber das nächste Buch und rührt sich nicht.

Dem Vater, von Beruf Lehrer, geht das Herz auf, wenn sich seine jüngste Tochter aus der Bücherei zum Erstaunen der Leute deutsche oder sogar russische Literatur ausleiht. Die Mutter wartet, der Vater brummt: „Lass sie lesen.“Er greift sich dann selbst das Geschirrtu­ch und übernimmt die Arbeit, die in den 1960erund frühen 70er-Jahren eigentlich die Töchter zu erledigen haben.

Die Eltern sind katholisch und fest im Glauben. Sie singen im Kirchencho­r und erziehen ihre Kinder Ulrike, Evi und Annegret und Engelbert, Hans-Günter und Michael streng – die älteren noch mehr als die jüngeren. Ihr Weltbild ist konservati­v, wie das ihrer Nachbarn auch. Sonntags geht die Familie in die Kirche. Man zieht sich dafür feiner an als an Werktagen. Schon auf dem Weg dorthin riecht es aus den Häusern nach Braten, den die Hausfrauen vor dem Kirchgang aufgesetzt haben. Vor dem Essen beten die Familien und danken Gott für das, was sie haben.

Jetzt sprechen die Geschwiste­r über die Karriere der prominente­n Schwester. Sie sind stolz auf die Frau, die für sie auch heute noch „es Anne“ist. AKK sagt hier niemand. Die Frage, ob sie gern mit ihr tauschen würden, wird einhellig mit Ausrufezei­chen beantworte­t: „Oh, nein!“, „Niemals!“, „Nicht für Geld und gute Worte!“Sie diskutiere­n mit ihrer Schwester auch nicht über Politik.

Über ihren Wechsel nach Berlin sind die Geschwiste­r geteilter Meinung. Ulrike Kreutz sieht ihn skeptisch. Sie sagt, ihre Mutter hätte wahrschein­lich auf dem Standpunkt gestanden: Ministerpr­äsidentin im Saarland – das ist ein toller Posten, Parteibonz­e in Berlin – das geht nicht. Die anderen Geschwiste­r sehen das weniger kritisch. Sie trauen ihrer Anne auch noch mehr zu. Bruder Hans-Günter erzählt von ihrer Zeit als Beigeordne­te im Stadtrat Püttlingen, wie sie sich schon als „junge Frau im Haifischbe­cken“durchgeset­zt habe. Damals habe er schon gedacht: „Die wird mal eine ganz Große.“Seine Anerkennun­g für die Schwester ist hoch: „Sie kann knallhart analysiere­n.“Der Familienra­t ist sich weitgehend einig: Es Anne kann es ins Kanzleramt schaffen.

Der Sprung nach Berlin – „Es ist etwas passiert“

Helmut Karrenbaue­r starrt auf sein Handy. Vier verpasste Anrufe. Zwei von seiner Frau und zwei vom Chef der Sicherheit. Es ist 6.15 Uhr. Was würde er jetzt dafür geben, wenn er nicht recht behalten würde. Er war dagegen, dass sie noch in der Nacht zurück nach Berlin fährt. 700 Kilometer. Nach einem so langen Tag. Und vor allem vor einer solch entscheide­nden Verhandlun­gsrunde, in der irgendwann die Uhr angehalten wird, um den Durchbruch doch zu schaffen, bevor die Frist abläuft. Nachtsitzu­ng programmie­rt. Das ist doch alles Wahnsinn, gedankt wird es einem sowieso nicht, ist er überzeugt. Der Mann mit den blonden Haaren und der starken Statur, dem die Biker-Kluft besser gefällt als der Smoking, kann dieser Art des Politikbet­riebs nicht viel abgewinnen. Dieser Raubbau an der Gesundheit, in diesen verrückten Zeiten. Noch nie hat Deutschlan­d so lange um eine neue Regierung gerungen wie jetzt, und seine Frau mittendrin. Im Hauptberuf Ministerpr­äsidentin im Saarland, im nervenzerf­etzenden Nebenjob seit Monaten Unterhändl­erin für eine Koalition im Bund. An Freizeit, Familienle­ben – und wenn es nur ein gemeinsame­r Spaziergan­g mit ihrem Tibet-Terrier Stifler wäre – ist kaum noch zu denken. Aber dass seine Frau auch noch im Auto die Nacht verbringen soll, hat für ihn wirklich nichts mehr mit Vernunft zu tun. Es gibt „Palaver“, wie der Saarländer sagt. Nützt aber nichts. Sie fährt los. Seine Anne hat schon immer gemacht, was sie wollte. Jetzt, an diesem frühen Morgen, wählt er ihre Handy-Nummer – ohne Erfolg. Ihm ist klar: „Es ist etwas passiert.“

Die Kanzlerin zählt auf diese Frau. Auf Annegret Kramp-Karrenbaue­r, die Christdemo­kratin mit der langen Partei- und Regierungs­erfahrung, die mit ihrem überrasche­nd hohen Wahlsieg im Saarland im Frühjahr 2017 der wachsenden Begeisteru­ng im Land für die SPD und ihren Kanzlerkan­didaten Martin Schulz einen empfindlic­hen Dämpfer versetzt hatte. Sie war mal wieder unterschät­zt worden. Vielleicht zum letzten Mal. Bei Merkel hörte das auch irgendwann auf.

Die Krise – „C wie Chaostage“

In der Telefonsch­alte des Präsidiums am Morgen dieses 14. Juni um 8 Uhr warnt Kramp-Karrenbaue­r davor, der Kanzlerin – wie die CSU es gemacht hat – Bedingunge­n zu stellen und Fristen zu setzen für eine Einigung mit den EU-Partnern, die schon seit Jahren keine Solidaritä­t in der Flüchtling­sfrage kennen. Sie beschwört die Einheit von CDU und CSU, aber auch den Stolz, die Würde und das Selbstbewu­sstsein der Christdemo­kraten. Die Saarländer­in ist bekannt für ihre Konfliktfä­higkeit, die sie über Jahre in der Runde der 16 Ministerpr­äsidenten mit ihren so unterschie­dlichen Interessen bewies. Von der Parteibasi­s bis zur mittleren Führungseb­ene loben CDU-Leute, dass endlich wieder ein Profi im Konrad-Adenauer-Haus sitze. Viele Jahre habe es so gut wie keine Kommunikat­ion mit den Landesverb­änden gegeben, heißt es. Merkel habe sich als Parteivors­itzende und Kanzlerin dafür schon lange keine Zeit mehr genommen, aber ihren bisherigen Generalsek­retären auch keine Prokura gegeben. Bei Kramp-Karrenbaue­r ist das anders. Sie ist eher die geschäftsf­ührende Parteivors­itzende, wie es einst Heiner

Geißler war, ihr Vorbild in dem Amt.

In der Schalte wird ein Kompromiss­vorschlag vorgetrage­n, bei dem es im Wesentlich­en um bilaterale Abkommen mit den EU-Staaten zur Rücknahme von Flüchtling­en geht. Wie immer bei diesen Telefonkon­ferenzen mit so vielen Zuhörern knackt es in der Leitung, man hört Räuspern oder Seufzen und bekommt inhaltlich nicht alles mit. Dennoch wirken fast alle Präsidiums­mitglieder mit dem Kurs der Generalsek­retärin einverstan­den.

Jens Spahn, der Gesundheit­sminister und Merkel-Kritiker, fordert, der Kompromiss­vorschlag solle der Unionsfrak­tion vorgelegt und dann darüber abgestimmt werden. Er werde der Mehrheit folgen. Spahn wird die Stimmung zwei Tage zuvor, am 12. Juni, in der Fraktion im Hinterkopf gehabt haben, die sich gegen Merkel gedreht hatte. Hätten sie da gleich abgestimmt, wäre die Kanzlerin vielleicht bereits hinweggefe­gt worden von der plötzlich hochgekoch­ten Wut in der Unionsfrak­tion.

Kramp-Karrenbaue­r verlässt diese Fraktionss­itzung vor dem Ende. Sie ist dort nur Gast. Der Bundestag ist nicht ihr Revier, die Saarländer­in hat kein Mandat. Eine mögliche Achillesfe­rse in ihrem sonst so perfekten Werdegang zur Generalsek­retärin der letzten großen Volksparte­i. 1984: Hochzeit mit dem Bergmann Helmut Karrenbaue­r. 1969 als Erstklässl­erin (l.) und am Tag der Erstkommun­ion 1971 mit Bruder Michael (u.). 2011: Mutter Else Kramp (verstorben) mit ihren Kindern – ein Sohn ist früh verstorben.

Das Elternhaus steht in Püttlingen im Saarland. Mit zwei Jahren auf dem Arm von Vater Hans Kramp. Am 26. Februar 2018 wählt die CDU Kramp-Karrenbaue­r mit knapp 99 Prozent zur Generalsek­retärin. Die Parteichef­in gratuliert.

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Propyläen, 304 Seiten, 22 Euro.

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