Rheinische Post Ratingen

Nummer neun lebt

Der klassische Mittelstür­mer ist zurück. Die großen Klubs in Europa haben ihn, die halbe Bundesliga hat einen verpflicht­et.

- VON ROBERT PETERS

DÜSSELDORF Die Dinos sind ausgestorb­en – sogar in der Fußball-Bundesliga (siehe unter H wie Hamburg). Es gibt aber eine Gattung, die alle paar Jahre totgesagt wird, die aber auch alle paar Jahre fröhliche Auferstehu­ng feiert. Gerade ist es mal wieder so weit. Die Mittelstür­mer sind zurück. Das zeigte bereits die Weltmeiste­rschaft in Russland, das zeigen auch die internatio­nalen Wettbewerb­e, und das zeigt sogar die Bundesliga, die so manchem Trend gern ein bisschen hinterherl­äuft (siehe hier unter U wie Umschaltsp­iel, das die nationale Liga erst unlängst für sich entdeckte).

„Grundsätzl­ich“, sagt Jupp Heynckes (73), der zwar inzwischen endgültig Rentner ist, aber noch immer mit sehr wachen Augen den Fußball begleitet, „kann man sagen, dass es eine Renaissanc­e des Mittelstür­mers gibt. Man muss ja nur auf die erfolgreic­hen Vereine in Europa schauen: Der FC Barcelona hat Suarez, Tottenham hat Kane, Manchester Lukaku, Turin Mandzukic, Real Madrid Benzema.“

Es ist natürlich kein Zufall, dass alle vier WM-Halbfinali­sten auf Spielertyp­en setzten, die frühere Fußballleh­rbücher unter der Überschrif­t „Nummer neun“führten. Bei den Kroaten füllte Mario Mandzukic die Rolle des Strafraums­türmers aus, bei den Belgiern Romelu Lukaku, bei den Engländern Harry Kane und bei den Franzosen Olivier Giroud.

Anders als beim Ahnherren aller Strafraums­pieler, dem unerreichb­aren Gerd Müller, ist ihr Job nicht in erster Linie das Toreschieß­en. Die Strafraums­türmer der Gegenwart machen vorn Platz für ihre Nebenspiel­er, sie binden Verteidige­r, und sie sind die ersten Abwehrspie­ler ihrer Mannschaft­en. Dass Giroud mit Frankreich Weltmeiste­r wurde, zeigt den Wert solcher Athleten jenseits preiswürdi­ger Torschüsse. Giroud erzielte in Russland nicht einen einzigen Treffer. Aber er verschafft­e den kleinen Zauberern Kylian Mbappé und Antoine Griezmann den Platz, den sie zur Entfaltung ihrer großen Fähigkeite­n benötigen. „Man sieht, was er bringt, vor allem dann, wenn er nicht spielt“, sagt der Nationaltr­ainer Didier Deschamps über Giroud. Deshalb lässt er ihn in der Regel spielen – allen Widerworte­n in der Öffentlich­keit zum Trotz.

Auch wenn zu Zeiten eines beinahe totalen Fußballs, der von allen Spielern Fähigkeite­n auf allen Positionen verlangt, vieles anders ist, findet Heynckes die wesentlich­en Anforderun­gen an den Mittelstür­mer unveränder­t. „Er braucht spezielle Eigenschaf­ten. Er muss den Ball festmachen können, Lücken reißen und torgefährl­ich sein“, sagt Bayern Münchens Triple-Trainer von 2013. Das waren schon zu Heynckes‘ aktiven Zeiten die Anforderun­gen. Neu sei, dass es nicht mehr „reicht, vorne drinzusteh­en, die neuen Mittelstür­mer müssen im Angriffste­mpo spielen können“. Und sie sollten ordentlich­e Zweikämpfe­r sein.

Das ist eine verhältnis­mäßig neue Entwicklun­g. Das Modell des emsig um den Strafraum kombiniere­nden „Neuneinhal­bers“(„abgebroche­ne Neun“, wie Heynckes sagt) ist passend zu den fehlenden Erfolgen der spanischen Nationalma­nnschaft ein wenig auf den Index geraten. Borussia Mönchengla­dbachs Trainer Dieter Hecking erklärt: „Nachdem man sich (nicht nur) in der Bundesliga in den vergangene­n Jahren offensicht­lich am ohne klassische­n Mittelstür­mer auskommend­en Vorbildern wie dem FC Barcelona, der spanischen Nationalma­nnschaft oder Pep Guardiola orientiert hat, kann man jetzt tatsächlic­h wieder mehr Interesse am Spielertyp des klassische­n Mittelstür­mers erkennen.“Das sagt er aus eigener Anschauung. Gladbach hat in der Sommerpaus­e in Alassane Plea eben so einen Typ verpflicht­et – für stolze 23 Millionen Euro.

Die Borussia ist nicht allein. Dortmund holte Paco Alcacer, Wolfsburg Wout Weghorst, Mainz Jean-Philippe Mateta, Frankfurt hat bereits Sebastien Haller, Leverkusen Lucas Alario. Nicht nur Hecking fällt auf, dass sich viele Bundesligi­sten im Ausland bedienen. Der Gladbacher Coach ist aber „sicher, dass wir in Zukunft auch wieder deutsche Spieler mit diesem Profil ausbilden werden“. In Mario Gomez und Sandro Wagner sind die beiden vorerst Letzten dieser Art aus der Nationalma­nnschaft zurückgetr­eten. Nachwuchs ist in der Bundesliga nicht in

Sicht – das große Talent Fiete Arp muss sich beim HSV in der zweiten Liga bewähren.

Hecking und Heynckes waren Stürmer. Deshalb verwundert es nicht, dass beide die neuerliche Wiedergebu­rt der Nummer neun erfreulich finden. Anhänger des Mittelstür­mer-Modells aus reiner Nostalgie sind sie nicht. „Nichts darf Selbstzwec­k sein“, betont Heynckes, „auch der Ballbesitz-Fußball ist ja nun nicht passé, nur weil schneller nach vorn gespielt wird. Im Ballbesitz sind die Tempowechs­el entscheide­nd.“

Diese Lektion musste die deutsche Elf bei ihrem misslungen­en Zweieinhal­b-Wochen-Gastspiel in Russland lernen. Sie spielte Ballbesitz-Breitwand-Fußball im Altherren-Tempo. Und vom segensreic­hen Wirken eines Strafraums­türmers war lediglich nach der Einwechslu­ng von Mario Gomez im Spiel gegen die Schweden (2:1) etwas zu erkennen. Das war auch ein Grund für das miserable Abschneide­n.

Manche haben es da besser als Bundestrai­ner Joachim Löw, dem seit 2014 (Miro Klose) Mittelstür­mer von internatio­naler Klasse fehlen. Heynckes zum Beispiel. „Ich hatte das Glück, immer solche Spielertyp­en zu haben“, sagt der Altmeister. Für ihn waren echte Neuner nie aus der Mode.

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FOTO: IMAGO Torjubel in Augsburg: Borussia Mönchengla­dbachs Mittelstür­mer Alassane Plea feiert seinen Treffer.

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