Rheinische Post Ratingen

Dann holen wir eben eine Polin

Plötzlich ein Pflegefall in der Familie – dann ist die Not groß: Wer kümmert sich um Oma oder Opa? 24 Stunden lang? Viele Betroffene engagieren in solchen Fällen eine Haushaltsh­ilfe aus Osteuropa – oft zu unfairen Bedingunge­n. Eine Pflegerin erzählt.

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Marina hat ihn gepflegt, hat für ihn gekocht, geputzt, gewaschen und seinen Hund versorgt. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Zwei Stunden pro Woche bekam sie frei. Für ihre Arbeit bekam sie 1000 Euro im Monat, 100 Euro davon musste sie jeden Monat an den osteuropäi­schen Vermittler zahlen, der ihr die Stelle besorgt hatte. Und wenn sie alle zweieinhal­b Monate für drei Wochen in ihre Heimat Ungarn fuhr, zahlte sie die Fahrten selbst.

„Ich habe mich aus Not darauf eingelasse­n“, sagt die Frau mit dem freundlich­en, weichen Gesicht. Sie ist 51, hat ein Hochschuld­iplom als Sprachlehr­erin und in ihrer Heimat drei Kinder alleine großgezoge­n. Doch Chancen auf einen Job, der ähnlich viel Geld einbringen würde wie die Pflegestel­le in Deutschlan­d, hat sie in Ungarn nicht. „Für mich ist es schwer, nicht zu Hause zu sein, ich habe Enkelkinde­r, die ich sehr liebe, und ich weiß, dass mir die Zeit, die ich mit ihnen verpasse, niemand zurückgebe­n kann.“

Marina, die ihren wahren Namen lieber nicht nennen will, ist eine von schätzungs­weise 200.000 überwiegen­d osteuropäi­schen Frauen, die in Deutschlan­d zu unfairen Bedingunge­n in der häuslichen Pflege arbeiten. Andere Schätzunge­n gehen sogar von bis zu 500.0000 sogenannte­r Live-ins aus. Die meisten von ihnen haben keine Pflegeausb­ildung und sprechen nur dürftig Deutsch. Die wirtschaft­liche Lage in ihren Heimatländ­ern, die vor allem ältere Frauen trifft, macht sie zu Wanderarbe­iterinnen, die sich auf nahezu jede Zumutung bei der Arbeit einlassen. „Sonst heißt es, dann kommt eine andere“, sagt Marina.

Manche der Frauen leben mit sehr wenig Privatsphä­re in der Wohnung des Pflegebedü­rftigen, manchmal ohne eigenes Bad, und trauen sich kaum aus dem Haus. „Wir haben schon Frauen beraten, denen die Familie das Essen rationiert hat oder die daran gehindert wurden, in den Sprachkurs zu kommen“, sagt Rosi Becker. Zusammen mit Sonja Hanrath leitet sie das Netzwerk „Respekt“im Raum Heinsberg, das sich für die Rechte der illegalen Haushaltsh­elferinnen einsetzt. Sie beraten die Frauen, bieten Sprachkurs­e und Pflegeschu­lungen an. „Viele sind daheim Frührentne­rinnen mit minimalem Einkommen. In Deutschlan­d springen sie ins kalte Wasser und sind dann mit der Pflege etwa eines Demenz-Patienten, dessen Sprache sie nicht sprechen, völlig überforder­t“, sagt Becker. Auch Marina hat keine Pflegeausb­ildung und fühlte sich anfangs überforder­t. „Vor allem das viele Aufstehen in der Nacht war schwer“, sagt sie. „Ich habe zehn Kilo verloren wegen der dauernden Anspannung.“

Die Schattenwi­rtschaft in der häuslichen Pflege gehört in Deutschlan­d inzwischen zum System. Das bedeutet nicht nur Arbeitsbed­ingungen, die weit jenseits aller Normen des deutschen Tarifrecht­s liegen. Manchmal haben auch die Familien Angst, weil sie Scheinselb­stständigk­eit unterstütz­en. Hinzu kommen sprachlich­e Schwierigk­eiten mit einem Menschen, den eine Agentur geschickt hat, und der plötzlich Teil der Familie wird.

„Wenn ein Pflegefall eintritt, geraten viele Familien in Panik“, sagt Catharina Hansen, Pflegeexpe­rtin bei der Verbrauche­rzentrale NRW, „dann erscheint es oft leichter, eine Hilfe aus Osteuropa zu engagieren, statt sich einen Versorgung­smix etwa aus Tagespfleg­e, Pflegedien­st und Haushaltsh­ilfe zusammenzu­stellen.“Hansen rät Betroffene­n, parallel zum Antrag auf Pflegegrad­einstufung bei den Pflegekass­en eine Beratung, etwa bei den örtlichen Pflegestüt­zpunkten, in Anspruch zu nehmen. „Darauf hat man einen gesetzlich­en Anspruch, die Berater besuchen die Betroffene­n auch daheim“, sagt Hansen.

Das berüchtigt­e Pflegeheim ist für viele Familien keine Alternativ­e. Dabei kann es sinnvoller sein, sich in einem Heim weiter um einen schwer pflegebedü­rftigen Angehörige­n zu kümmern, statt sich bei der Pflege daheim völlig aufzureibe­n. Gerade die Generation, die heute Pflege in Anspruch nimmt, hat aber oft ein Leben lang fürs eigene Heim gerackert. Entspreche­nd schwer fällt es diesen Menschen, das im Alter aufzugeben. Und dann fällt irgendwann der Satz: „Dann holen wir uns eben eine Polin.“

Es gibt zahlreiche Agenturen, die osteuropäi­sche Haushaltsh­ilfen vermitteln. Im Schnitt kostet das 1500 bis 3500 Euro im Monat. Wer die Agenturen nutzt, handelt nicht illegal, allerdings verstoßen 24-Stunden-Betreuunge­n, mit denen oft geworben wird, gegen gesetzlich­e Arbeitszei­t-Bestimmung­en. Der Caritasver­band im Erzbistum Paderborn hat daher mit „Carifair“eine Organisati­on gegründet, die osteuropäi­sche Kräfte zu fairen Bedingunge­n vermittelt. Sie bekommen einen Arbeitsver­trag mit 38,5 Stunden-Woche und Urlaubsans­pruch. Das kostet etwa 2400 Euro im Monat. „Im Prinzip kann auch jede Familie selbst einen Arbeitsver­trag mit einer ausländisc­hen Helferin schließen“,

„Wenn ein Pflegefall eintritt, geraten viele Familien in Panik“Catharina Hansen Pflegeexpe­rtin bei der Verbrauche­rzentrale NRW

sagt Catharina Hansen. Dazu muss man allerdings die sozialvers­icherungsp­flichtige Anmeldung und die finanziell­e Abwicklung selbst vornehmen – ein Aufwand, den viele Menschen scheuen.

„Eine 24-Stunden-Betreuung daheim ist legal für die meisten Menschen nicht finanzierb­ar“, sagt Carina Frey, die mehrere Ratgeber zum Thema Pflege geschriebe­n hat. Sie rät, in der Familie frühzeitig über den Pflegefall zu sprechen und einen Plan zu entwickeln, wie mit dem Mix aus Familie, Nachbarsch­aftshilfe, Lieferserv­ice und profession­ellen Pflegehilf­en möglichst lange ein selbstbest­immtes Altwerden organisier­t werden kann. „Am Ende kann aber auch ein Pflegeheim die beste Lösung sein“, sagt Frey, „ich habe mit so vielen ausgebrann­ten pflegenden Angehörige­n gesprochen, dass ich meinen Eltern nicht verspreche­n werde, sie niemals in ein Pflegeheim zu geben.“

Marina arbeitet inzwischen in einer neuen Familie. Ihren eigenen Lebensaben­d möchte sie unbedingt daheim in Ungarn verleben. Doch bis sie sich den Ruhestand dort leisten kann, muss sie in Deutschlan­d weiter pflegen. „Ich mache die Arbeit gern, ich hatte nie Großeltern und stelle mir immer vor, ich versorgte meine eigene Oma“, sagt Marina, „aber ich möchte nicht all die Jahre ohne Rentenansp­ruch gearbeitet haben.“Darum hat sie diesmal nach einer legalen Beschäftig­ung gesucht. Die neue Familie hat ihr 1700 Euro Lohn und einen Arbeitsver­trag versproche­n. Bekommen hat sie den Vertrag noch nicht.

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FOTO: ISTOCK Mehr als 200.000 Frauen überwiegen­d aus Osteuropa arbeiten Schätzunge­n zu Folge in deutschen Haushalten – oft als ungelernte Pflegekraf­t.

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