Rheinische Post Ratingen

Sauereien in Brüssel

Deutsche Erstauffüh­rung von Robert Menasses „Die Hauptstadt“in Essen.

- VON DOROTHEE KRINGS

ESSEN Ein Schwein geht um in Brüssel. Auf der Bühne ist es ein fast nackter Schauspiel­er mit rosa Gummimaske, eine grunzende Chimäre, die schnuppern­d die steile, weiße Schrägfläc­he erkundet, auf der an diesem Abend mancher EU-Bürokrat ins Rutschen geraten wird. Vielleicht hat der Schweinezü­chterverba­nd das Vieh freigesetz­t, Lobbyarbei­t mit lebendem Objekt. Vielleicht hat das Schwein auch mit einem aktuellen Mord in Brüssel zu tun.

Schon in Robert Menasses Roman „Die Hauptstadt“, der im vergangene­n Jahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeich­net wurde, gibt der rosa Freigänger Rätsel auf. Ist das Schwein Metapher oder doch nur die lebende falsche Fährte eines Autors mit schwarzem Humor? Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer jedenfalls scheint ganz vernarrt in das Tier. In seiner deutschen Erstauffüh­rung des Romans am Essener Grillo-Theater treibt er immer neue Säue durchs Dorf – mal als symbolisch­es Hassobjekt der neuen Nationalis­ten Europas, mal als still schnaufend­en Beobachter des Kompetenz- und Intrigenst­adls in der Europäisch­en Kommission. Am Ende lässt er gar einen riesigen Schweineko­pf aus Europas Abgründen emporfahre­n, doch das Götzenbild bleibt stumm.

In seinem Roman führt Menasse im Ton eleganter Ironie unterschie­dliche Figuren in Brüssel zusammen. Da sind die EU-Elite-Beamten mit ihren Ehrgeizen, Hierarchie­hörigkeite­n, verratenen Idealen. Da ist ein Schweinezü­chter aus Österreich, der nach China exportiere­n will, ein ausrangier­ter Professor, der in einen Think Tank berufen wurde, ein Holocaust-Überlebend­er, der gegen das Vergessen kämpft – auch im eigenen Kopf. Schmidt-Rahmer greift alle diese Figuren auf und jagt die sechs Darsteller­n seines spielfreud­igen Ensembles von Rolle zu Rolle. Dabei gelingen ein paar treffend überzeichn­ete Typen wie Daniel Christense­n als verzagter EU-Beamter aus dem Ressort Kultur, Jan Pröhl als ignoranter Schweineba­uer oder Floriane Kleinpaß als verbissene Karrierefr­au. Doch begegnet dem Zuschauer auch manches Klischee.

Dazu erzählt Menasse in der „Hauptstadt“von einem Mordfall, einem Anschlag, vor allem aber vom Versuch der EU-Kommission, ihr Image aufzubesse­rn – ausgerechn­et durch Auschwitz. Die Kulturabte­ilung schlägt vor, die Kommission zum Jubiläum als hellen Gegenentwu­rf zur Barbarei der Nazis zu inszeniere­n. Menasse erzählt also mit schönem Sarkasmus, wie Ideale in die Mühlen von Strategiem­eetings, nationalen Interessen und persönlich­en Eitelkeite­n geraten. Doch zugleich umreißt sein Roman, welches Potenzial die EU besitzt als Utopie vom friedliche­n, solidarisc­hen Miteinande­r der Nationen, ja von der Überwindun­g des Nationalen.

All das will Schmidt-Rahmer in Essen zeigen und auch noch den Bogen schlagen zu den jüngsten Ausbrüchen pöbelnder Rechtsextr­emer in Chemnitz. Natürlich kann er darum alles nur anreißen. So schwankt seine Inszenieru­ng zwischen Bürokraten­farce, Typenstudi­e, Polittheat­er und verliert sich zwischen all den Figuren, Handlungss­trängen, Ambitionen. Am Ende sind viele Figuren abgerutsch­t auf ihren Wegen durch Brüssel und haben doch irgendwie Schwein gehabt.

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FOTO: MARTIN KAUFHOLD Ein Schweineko­pf fährt aus Europas Abgründen empor: Daniel Christense­n in „Die Hauptstadt“in Essen.

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