Einmal ein Jahr durchdämmern, bitte
Elektronik Diese Musik macht Arbeit, beim ersten Hören jedenfalls. Sie ist die totale Überforderung, aber wer dran bleibt, wird belohnt. Autechre ist ein Duo aus England, seit 1987 machen Rob Brown und Sean Booth unter diesem Namen Musik, und sie haben in dieser Zeit geforscht und experimentiert, sie haben Melodien erst verbannt und schließlich zurückgeholt (wenn auch nur in Spurenelementen), sie haben den Rhythmus gebrochen und Labyrinthe aus Sound gebaut. Autechre haben fast alle Spielarten der elektronischen Musik bedient: Ambient, HipHop, Techno. Die frühen Alben „Incunabula“und „Amber“sind schön – jedenfalls, wenn man Eisblumen schön findet. Autechre wurden mit der Zeit härter und kälter, sie versuchten, die Mathematik zu besiegen und Klanglandschaften nicht mehr zu programmieren, sondern quasi natürlich entstehen zu lassen. Dabei verloren sie sich um die Jahrtausendwende in der Beliebigkeit, sie klangen wie die Avantgarde von gestern. Nun sind sie indes zurück, und das neue Werk klingt so, als sei es das Ergebnis und das Ziel der jahrzehntelangen Klangforschung. Literatur Die amerikanische Schriftstellerin Otessa Moshfegh ist 37 Jahre alt, und in den USA sind alle ganz aus dem Häuschen über ihre Bücher, und sie haben Recht, denn diese Frau schreibt super. „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“lautet der Titel des Romans, den der Liebeskind-Verlag gerade auf Deutsch herausgebracht hat, und darin geht es um eine junge Frau in New York. Sie verfügt über alle Anlagen, sich die Stadt zum Untertan zu machen: Abschluss an einer Elite-Uni, aufsehenerregende Erscheinung. Aber sie mag nicht, sie möchte nämlich lieber Winterschlaf halten. Sie will der Welt den Rücken kehren, zumindest auf Zeit, deshalb lässt sie sich von einer Ärztin mit Tabletten versorgen: einmal ein Jahr durchdämmern, bitte. In den kurzen Wachphasen merkt die Frau nun aber, dass sie als Schlafende offenbar ein eigenständiges Leben führt. Sie schläft dann nämlich gar nicht, sondern ist eine andere, in einen anderem Bewusstseinszustand. Großartig. hols
Otessa Moshfegh: Dieses Album erstreckt sich über acht CDs mit acht Stunden Spielzeit und geht zurück auf eine Folge von Auftritten beim englischen Radiosender NTS. Fünf Sessions spielten Autechre dort, die jetzt unter dem Titel „NTS Sessions“in einer Box zusammengefasst werden. Darin sind einige der besten Titel zu finden, die die Gruppe je veröffentlicht hat. Scheinbar unergründlich, regellos, neu. „Violvoic“und „Mirrage“seien als Beispiele genannt. Das längste Stück dauert 59 Minuten, man bekommt das aber ohnehin nicht mit, weil alle Kompositionen nahtlos ineinander laufen. Lärm und Lieblichkeit entstammen demselben Labor. Vielleicht sollte man mit Session Nummer 4 anfangen, sie ist die beste, die wärmste sogar. Große Veröffentlichung, in jeder Hinsicht. Philipp Holstein