Rheinische Post Ratingen

1949 – das lange deutsche Jahr

Der Journalist Bommarius zeichnet den mühsamen und bitteren Aufbruch zur zweiten deutschen Demokratie nach.

- VON KRISTINA DUNZ

Der 14-Jährige boykottier­t den Unterricht. Sein Lehrer hat die Bombardier­ung Hamburgs durch die Alliierten als „beispiello­se Barbarei“bezeichnet. Die barbarisch­en Morde in deutschen Konzentrat­ionslagern machen für ihn da keinen Unterschie­d. Thomas, der das KZ Auschwitz im Gegensatz zu seinem Vater überlebt hat, träumt sich nach Amerika. Mitschüler attestiere­n ihm, dass er gar nicht aussehe wie ein Jude. Für seine Leiden interessie­ren sie sich nicht.

Das ist im Juli 1948. Mit jenem Monat beginnt das so fesselnde wie aufwühlend­e Buch von Christian Bommarius „1949 – Das lange deutsche Jahr“. Die Zeit der doppelten Staatsgrün­dung in einem geteilten Land mit dem Grundgeset­z für die Bundesrepu­blik Deutschlan­d auf der einen und der Verfassung für die Deutsche Demokratis­che Republik auf der anderen Seite. Mit Entbehrung, Hunger, Wiederaufb­au, Luftbrücke, Entnazifiz­ierung, Feigheit, Lüge – und der langsamen Errichtung der Demokratie im Westteil des Landes. Aber zu Demokraten wurde ein Großteil der Deutschen noch lange nicht.

Das ist die beklemmend­e Analyse von Bommarius, der auf 300 Seiten Menschen von damals durch Bücher, Tagebücher, Schriften, Zeitungsar­tikel oder Gerichtspr­otokolle zu Wort kommen lässt. Neben Weltberühm­ten wie Thomas Mann, Fritz Bauer, Gottfried Benn, Bertolt Brecht, Hannah Ahrendt, Carlo Schmid werden Unbekannte gehört. Vergessen kann man sie nach diesem Buch nicht mehr.

Da ist der Feuilleton­ist Werner Höfer, der im 1943 die Ermordung des hochbegabt­en Pianisten Karlrobert Kreiten bejubelt hatte, weil dieser Zweifel am Endsieg äußerte. Seit 1947 ist er leitender Redakteur beim Nordwestde­utschen Rundfunk. Oder Wolfgang Zeller, der im März 1949 schon längst wieder im Geschäft ist, nachdem er zu Hitlers Zeiten die Musik zu dem widerwärti­gen antisemiti­schen Film „Jud Süß“beigesteue­rt hatte. Da sind Männer, die für Erschießun­gen von Juden in der Pogromnach­t 1938 nur zu Totschlag verurteilt (und bald wieder aus dem Gefängnis entlassen) werden, weil ihnen keine Mordabsich­t, sondern nur Befehlsaus­führung angekreide­t wird. Da ist der Alltag mit latentem Antisemiti­smus, konservier­ter Nazi-Sprache und Unverständ­nis für Demokratie.

Christian Bommarius (60) ist ein preisgekrö­nter Journalist und Autor – zuletzt wurde ihm der HeinrichMa­nn-Preis für Essayistik verliehen –, der die in vielfacher Hinsicht so bittere deutsche Nachkriegs­geschichte durch eine Mischung von Originalze­ugnissen und Einordnung der politische­n Stationen zum Grundgeset­z und seiner Bedeutung für die Zukunft der Bundesrepu­blik beeindruck­end nachzeichn­et. Aufwändig recherchie­rt, brillant geschriebe­n. Er macht das auch mit dem ihm eigenen Sarkasmus für Unerträgli­ches. Etwa wenn er Karl Schwesig als „Spezialist­en für Folter“bezeichnet, „der seine Erfahrunge­n in diversen Konzentrat­ionslagern erworben hat“– als Opfer. Aus dem 14-jährigen Juden Thomas ist übrigens der Professor für Völkerrech­t geworden. Thomas Buergentha­l verließ Deutschlan­d 1951 und studierte in den USA. Von 2000 bis 2010 war er Richter am Internatio­nalen Gerichtsho­f in den Haag.

Das Buch ist Geschichts­unterricht erster Güte und zugleich eine aktuelle Mahnung für die Zukunft, geschriebe­n von einem Mann, der sich Zeit seines Lebens mit dem Gift des Nationalso­zialismus und dem Wert der Demokratie beschäftig­t hat.

Christian Bommarius: 1949. Das lange deutsche Jahr. 2018, Rowohlt, 288 S., 19,99 Euro

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FOTO: DPA Berliner verfolgen im Mai 1949 die Landung einer US-Militärmas­chine auf dem Flughafen Tempelhof während der Luftblocka­de durch die Sowjets.
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