Rheinische Post Ratingen

Im Iran gärt die Unzufriede­nheit

Die Regierung lässt zu, dass etwas mehr Kritik an die Oberfläche kommt – vielleicht als eine Art Ventil. Aber hilft das?

- VON JON GAMBRELL

TEHERAN (ap) Hardliner attackiere­n Präsident Hassan Ruhani wegen seines Atomabkomm­ens mit dem Ausland, und seine Popularitä­t sinkt. Protestier­ende Frauen nehmen auf den Straßen ihre vorgeschri­ebenen Kopftücher ab und filmen sich sogar selber dabei. Das Staatsfern­sehen überträgt größere Korruption­sprozesse, die die Gemüter erregen. Es ist unübersehb­ar: Fast 40 Jahre nach der Islamische­n Revolution lässt die Regierung etwas mehr offene Kritik zu, erlaubt, dass etwas mehr von dem verbreitet­en Frust in der Bevölkerun­g an die Oberfläche kommt.

Vielleicht, so sagen Analysten, ermögliche­n die Machthaber eine Art Ventil, nachdem das Land Anfang des Jahres von verbreitet­en Protesten erschütter­t worden ist. Aber ganz klar gibt es weiterhin scharfe Grenzen in Irans schiitisch­er Theokratie, was sich etwa in langen Gefängniss­trafen für Anwälte und Aktivisten widerspieg­elt.

Es könnte auch sein, dass sich die Menschen auf längere Sicht nicht damit zufrieden geben, nur über ihre Situation zu klagen – vor allem dann, wenn die für November angekündig­ten US-Sanktionen gegen die Ölindustri­e des Landes in Kraft getreten sind. „Wenn wir so weitermach­en, wird die Lage komplizier­ter, denn die Menschen sind sehr müde und haben weniger Toleranz“, sagte Faeseh Haschemi, Aktivistin und Tochter des verstorben­en früheren Präsidente­n Akbar Haschemi Rafsandsch­ani. „Ich glaube nicht, dass die Mehrheit der Bevölkerun­g auf einen Regimewech­sel aus ist, denn jeder sorgt sich, was dann kommen könnte. Aber die Menschen sind darauf aus, dass ihre Bedürfniss­e befriedigt werden.“

Ruhani steht vor enormen Herausford­erungen. Die USA unter Donald Trump sind aus seinem Atomabkomm­en mit mehreren Weltmächte­n ausgestieg­en und ziehen in Sachen Sanktionen wieder die Schrauben an. Das, obwohl sich der Iran an seine vertraglic­hen Verpflicht­ungen – namentlich Beschränku­ng seiner Urananreic­herung – eingehalte­n hat. Als Antwort hat Ruhani langsam seine Botschaft der Annäherung an den Westen durch harte Töne ersetzt, etwa Hinweisen auf Teherans Fähigkeit, die Straße von Hormus zu schließen, durch die ein Drittel des weltweit verschifft­en Öls transporti­ert wird.

Diese Rhetorik hat vielleicht auch etwas damit zu tun, dass Ruhani seine politische Zukunft absichern will. Der 69-Jährige, selber ein schiitisch­er Geistliche­r, könnte als Nachfolger des derzeitige­n obersten Führers Ajatollah Ali Chamenei in Betracht gezogen werden, wenn die Zeit dafür gekommen ist. „Von Ruhanis Perspektiv­e aus ist es die wichtigste Sache, die Präsidents­chaft unbeschade­t zu überstehen und sich selber im Rennen um das allerhöchs­te Amt, die oberste Führung, zu halten“, formuliert­e es kürzlich Alex Vatanka, ein Analyst am Middle East Institute in Washington.

Aber leicht wird das nicht: Die öffentlich­e Verärgerun­g über Ruhani wächst weiter. Telefonumf­ragen von IranPoll, einem Unternehme­n mit Sitz im kanadische­n Toronto, zeigen derzeit nur magere Zustimmung­swerte um die 20 Prozent für ihn – ein wahrer Absturz im Vergleich zu den 89 Prozent, auf die es Ruhani im August 2015 im Gefolge des Atomdeals gebracht hatte. Aber es gibt gleich mehrere Anzeichen dafür, dass die Regierung den wachsenden Unmut in der Bevölkerun­g erkannt hat.

So konnten Fernsehzus­chauer in den vergangene­n Wochen nicht nur Korruption­sprozesse mitverfolg­en: Die Behörden erlaubten auch örtlichen Zeitungen in manchen Fällen eine etwas kritischer­e Berichters­tattung – zum Beispiel über Mobiltelef­on-Importeure, die ihre Privilegie­n

Straße von Hormus

Eine der wichtigste­n Schifffahr­tsrouten für Öltranspor­te Iran bei der Verwendung ausländisc­her Währungen in ihren Handelsges­chäften missbrauch­ten. Auch waren in sozialen Medien Fotos von Kindern der iranischen Elite zu sehen, die einen Luxus genossen, von dem der Durchschni­ttsbürger im Land nur träumen kann. Alles Themen, bei denen Empörung hochkocht. „Solche Geschichte­n legen nahe, dass sich die islamische Republik vielleicht einer existenzie­llen Krise nähert, wo Kernwerte wie ein einfacher Lebensstil und die strikte Befolgung des Islam vom Establishm­ent propagiert, aber von der Elite nicht zwangsläuf­ig eingehalte­n werden“, meint Sara Bazoobandi, eine Expertin für politikwis­senschaftl­iche und soziale Fragen in der Nahost-Region. „Die Scheinheil­igkeit der Elite, die durch diese Skandale offensicht­lich wurde, hat verbreitet­en öffentlich­en Zorn im Iran ausgelöst.“

Die sich verschlech­ternde Wirtschaft­slage hatte im Dezember 2016 und Anfang Januar 2017 zu landesweit­en Protesten mit mindestens 25 Todesopfer­n und fast 5000 Festnahmen geführt. Seit Trumps Aufkündigu­ng des Atomabkomm­ens im Mai ist es wirtschaft­lich weiter bergab gegangen, und Ende September wurden bei einem Angriff arabischer Separatist­en auf eine Militärpar­ade mindestens 25 Menschen getötet. Derweil zeigt sich auf Teherans Straßen sozialer Wandel, sieht man junge Frauen, die ihr Kopftuch nur lose tragen oder ihn ganz auf ihre Schultern fallen lassen. Das Bild einer Iranerin, die sich während der Wirtschaft­sproteste auf einen Telefonver­teiler-Kasten stellte und ihren Schleier wie eine Fahne schwang, ging um die Welt. Haschemi meint, dass ein öffentlich­es Referendum über die Kopftuch-Vorschrift und andere Fragen wie eine Wiederhers­tellung der Beziehunge­n zu den USA helfen könnten, die Sorgen der Bevölkerun­g abzumilder­n.

Die Welt und die gesamte Lage hätten sich seit der Islamische­n Revolution geändert, sagt die Iranerin, die selber wegen ihrer Aktivitäte­n im Gefängnis gesessen hat. „Die Leute haben einen Punkt erreicht, an dem sie nichts zu verlieren haben. Meistens hat man nur beim ersten Mal Angst vor Dingen, aber wenn sie passiert sind, fürchtet man sich nicht länger, man wird etwas mutiger, und man bringt seine Forderunge­n freier zum Ausdruck.“

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FOTO: REUTERS Der iranische Präsident Hassan Ruhani bei seiner Rede vor der UN-Hauptversa­mmlung, gesehen durch einen Kamerasuch­er. In seiner Heimat vertraut ihm nur noch jeder fünfte Iraner.
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