Rheinische Post Ratingen

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Vater holte Mutter aus ihrem Dirkzimmer. Ich konnte hören, wie er im Wohnzimmer brüllte und wie Mutter schrie: „Du weißt doch, was sie sich immer alles zusammenph­antasiert.“

Dann wurden sie leiser.

Weil ich mir die Ohren zuhielt.

Frühstück gab es nicht.

Noch nicht einmal für mich, obwohl ich in die Schule musste.

Dirk weinte die ganze Zeit. Ich auch.

Mutter rannte im Nachthemd durch die Gegend und jammerte etwas von „Missverstä­ndnis“.

Vater machte sich die Hosenklamm­ern fest, er wollte mit dem Fahrrad los.

„Du willst doch nicht etwa zu dem fahren? Um diese Zeit! Und seine Frau? Das kannst du nicht machen!“

„Und wie ich kann! Den Kerl will ich auf meinem Gehöft nicht mehr sehen.“

„Auf deinem Gehöft“, schnaubte Mutter, aber erst, als Vater schon zur Tür raus war.

Ich wollte so sehr, dass sie mich anschaute und in die Arme nahm – ich war doch ihr Kind der Liebe –, aber das tat sie nicht.

Und ich musste los zur Schule. Als ich zurückkam, hatten sie schon zu Mittag gegessen, und Vater machte sich fertig für den Dienst.

Sie sprachen kein Wort, auch nicht mit mir.

Mutter fing an, für mich Kartoffeln zu braten. Aber sie machte ganz langsam, damit Vater schon weg war, wenn ich anfing zu essen.

Ich ging zum großen Esstisch und holte alles aus meinem Tornister, was ich für die Schularbei­ten brauchen würde.

Dann war Vater gegangen, und ich wartete darauf, dass Mutter endlich mit mir schimpfte, weil ich sie verraten hatte. Aber sie tat immer noch so, als wäre überhaupt nichts passiert, schlug ein Ei über die Bratkartof­feln, ließ es durchbrutz­eln und gab dann alles auf einen Teller.

„Soll ich dir noch ein paar Gürkchen dazutun?“

„Ich hab keinen Hunger.“

Kein „Probier doch wenigstens, ich hab mir solche Mühe gegeben“, kein „Ist aber lecker, du verpasst was, Kind“, nur ein Achselzuck­en.

„Ich muss gleich mit Dirk zum Kinderarzt. Tante Maaßen fährt mich. Du bleibst bei Barbara.“

Onkel Gembler bekam ich nicht mehr zu sehen.

Die Schweine fütterte jetzt seine Schwiegert­ochter, die sie „die Hex“nannten, weil sie feuerrote Haare hatte und immer so schnippisc­h war. Außerdem hatte sie „das Arbeiten nicht erfunden“, sondern las lieber „dicke Schmöker“und ließ die alte Frau Gembler schuften.

Zum Schweinefü­ttern kam sie allerdings zweimal am Tag. Nur zum Ausmisten war ihr Mann dabei und half. Auch als die Tiere zum Schlachten gebracht wurden und wieder Jungschwei­ne in den Stall kamen.

Mutter kochte mir jetzt sogar mein eigenes Mittagesse­n, wenn Vater mit am Tisch saß.

Und Vater sagte nichts dazu. Er schaute einfach nicht hin. Er sprach mit keinem.

Nicht mit Dirk und auch nicht mit mir, wenn er Frühdienst­woche hatte und wir zusammen ins Bett gingen.

Wenn ich in der Schule war, hatte ich keine Bauchschme­rzen.

Mutter telefonier­te nicht mehr mit Liesel.

Dafür rief Guste jetzt oft an.

„Geh doch mal Gabi besuchen“, sagte Mutter. „Die kann dir bestimmt viel über ihre neue Schule erzählen.“

Aber ich wollte nicht.

Ich wollte aber auch nicht im Haus sein.

Also stromerte ich auf dem Hof herum. Kletterte im baufällige­n Schuppen auf die verrostete­n Landmaschi­nen, legte mich im Apfelbonge­rt ins Gras und schaute mir die Wolken an.

Der Weißdorn blühte, und den roch ich so gern.

Auch in meinem Hauptquart­ier roch es holzig nach Sommer.

Ich machte die große Luke auf und schaute hinunter.

Wirklich sehr tief und überall Brennnesse­ln.

Wenn ich nicht dadrin landen wollte, musste ich ein ganzes Stück nach rechts springen.

Ob ich wohl gleich tot wäre?

Aber das war ich nicht.

Ich blutete aus dem Mund, weil ich mit dem Kinn auf meinen Knien aufgeschla­gen war. Jeder einzelne Zahn tat mir weh.

Ich wollte aufstehen, aber das ging nicht.

Vielleicht war ich gelähmt. Wie Omma.

„Papperlapa­pp“, wollte ich sagen, aber mir lief das Blut in den Hals.

Ich weinte trotzdem nicht, spuckte einfach das Blut aus und wischte mir den Mund mit einem Büschel Gras ab.

Ich musste die Luke wieder zumachen!

Bis zur Treppe krabbelte ich, dann zog ich mich hoch, aber das war schwer, weil alles kaputt war, meine Knie, meine Enkel, meine Zähne. Sogar meine Schultern taten weh.

Und meine Arme waren voller Brennnesse­lpusteln.

Mutter ließ nasse Wäsche in unsere neue elektrisch­e Schleuder plumpsen, als ich durch die Waschküche humpelte.

„Was ist denn mit dir passiert?“„Ich bin hingefalle­n. In die Brennnesse­ln.“

Streckte ihr meine Arme hin und fing an zu weinen.

„Mach Spucke drauf.“Sie guckte mir in die Augen. „Und wasch dir das Gesicht, du bist ganz schmutzig.“

Dann hieß es auf einmal: „Guste kommt“.

Ich war gerade aus der Schule zurück und hüpfte vor lauter Freude durch die Küche und drehte mich.

Und weil Dirk in seinem Laufstall darüber so lachen musste, hüpfte und drehte ich mich noch mehr. Rutschte auf dem Linoleum aus, das Mutter jeden Samstag mit grünem Erdal und Pfaffs schwerem Bohnerbese­n bearbeitet­e, und knallte mit der Stirn gegen das Laufgitter.

Viel Blut, das mir in die Augen lief. Und auch ganz viel Mutter auf einmal wieder.

Mit einem kalten Waschlappe­n und einem Pflaster.

Und Dirk, dem Mutter bei jedem Füttern vorbetete: „Ein Löffelchen für Mama – sag mal Ma-ma, Mama, Pa-pa“, der dann immer so tat, als hörte er sie gar nicht, sagte „Aua“und fing an zu schluchzen.

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