Protest ist auf der Straße am schönsten
Der Zuspruch bei der Großdemo am Hambacher Forst zeigt: Auch im digitalen Zeitalter wollen Menschen vor Ort für ihre politische Haltung eintreten. Die Aufmerksamkeit, die sie dadurch erreichen, gibt ihnen recht.
Die Demo ist zurück. Bürger versammeln sich wieder auf der Straße, um ihre Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen. Analog. Zu Fuß. Mit Pappschildern. Dabei war Politik für viele doch so lange etwas, das bequem an Professionelle delegiert war oder in irgendwelchen Hinterstuben praktiziert wurde. Lass die anderen mal machen, hieß es im depolitisierten Deutschland. Vielen schien es attraktiver, ihre Meinung in den sozialen Netzwerken kundzutun – und aus der persönlichen Blase direkt ein positives Echo zu bekommen, als sich mit lauter Unbekannten auf die Straße zu stellen.
Doch nun sind am Wochenende 250.000 Menschen in Berlin bei der „Unteilbar“-Demo für ein weltoffenes Deutschland rausgegangen. Und am Wochenende zuvor waren es Zehntausende bei der Demo gegen Braunkohle am Hambacher Forst. Die Menschen vertrauen wieder darauf, dass sich durch öffentliches Auftreten ein Zeichen setzen lässt. Sie glauben, dass sie viele werden. Und dass ihr Anliegen so drängend ist, dass sich der persönliche Einsatz lohnt.
Aufgekommen ist diese neue Lust an der alten Protestform wohl 2010, als aus dem Unmut über ein gigantisches Bahnhofsbauprojekt der Massenprotest gegen „Stuttgart 21“wurde. Plötzlich fand sich die Mitte der Gesellschaft auf der Straße wieder, Menschen unterschiedlicher Herkunft und Generation verschafften sich durch den Schritt in den öffentlichen Raum Aufmerksamkeit. Sie zwangen ihr Thema auf die politische Agenda.
Auch vorher hatte es Demos auf Deutschlands Straßen gegeben, doch mit Stuttgart fand diese Protestform breite bürgerliche Anwendung. Bücher erschienen wie „Mut Bürger“von Florian Kessler. Was antwortet man auf Die-Zusammenhänge-sind-doch-viel-komplexer-Einwände? Wie begegnet man Hilft-doch-eh-nix-Ausflüchten? Und wie nutzt man die sozialen Medien, um analogen Protest zu organisieren? Das wurde darin erklärt. Die Zeit der Zyniker, die „Gutmenschen“spießig und Demos „zu kalt“fanden, schien erst einmal vorbei. Seither erlebt der öffentliche Protest eine Wiederbelebung in Etappen. Gerade wenn es um Themen geht, die über die Zukunft entscheiden, um große Bauprojekte, Energie, Ernährung, Gesellschaft, treten Bürger in die Öffentlichkeit.
„Hautnahes Erleben kann Massen mobilisieren“, sagt der Berliner Soziologe Dieter Rucht, doch könne auch abstrakte Betroffenheit Massenproteste auslösen. In Berlin hat die Sorge vor einer Spaltung der Gesellschaft die Menschen bewegt. Das schöne Wetter mag zum Zuspruch bei „Unteilbar“beigetragen haben, doch vor allem war es wohl der Wunsch, vor der Wahl in Bayern der weltoffenen Mitte der Gesellschaft eine Stimme zu geben.
Für Rucht zeigen auch die Demos für den Atomausstieg und nun für die Abkehr von der Kohle, wie sehr abstrakte Themen mobilisieren. „Hinzu kam im Hambacher Forst die hohe Symbolkraft des Waldes und die Zähigkeit der Besetzer, die doch vielen Menschen Respekt abverlangt hat“, so Rucht. Auch das Gefühl, dass die professionelle Politik ein wichtiges Thema komplett verschläft, kann Menschen auf die Straße treiben. „Es wird so viel über Flüchtlinge oder Wirtschaftsthemen diskutiert“, sagte etwa ein Teilnehmer der Großdemo am Hambacher Forst, „ich habe eine ganz andere Prioritätenliste, da steht der Klimawandel ganz oben, weil der unsere Zukunft wirklich existenziell bedroht.“
Spannend ist, dass die Demo trotz zunehmender Digitalisierung des Alltags ein Revival erlebt. Die physische Präsenz auf der Straße scheint selbst gigantische Unterschriftenzahlen bei Online-Petitionen in der öffentlichen Wirkung auszustechen. „Bei Online-Unterschriften haben viele Menschen das Gefühl, die Unterstützung sei billig zu haben“, sagt Rucht, „darum beeindruckt das viel weniger, als wenn es Organisatoren gelingt, Zehntausende Menschen auf die Straße zu bringen.“
Womöglich ist es für Menschen, die sich ansonsten viel in der digitalen Welt bewegen, sogar ein zusätzlicher Anreiz, bei Demos Gleichgesinnten real zu begegnen. Auch wenn man vielleicht hinter dem einen oder anderen Plakat hertrotten muss, das man selbst so nicht gepinselt hätte – das Erlebnis, leibhaftig auf Mitstreiter zu treffen, mal wieder intensiv über Politik zu reden und das gute Gefühl zu teilen, für eine wichtige Sache einzutreten, begeistert wieder. Demo, das ist eben auch Politik als Event.
Natürlich hat die Digitalisierung das Protestieren selbst verändert. Demonstranten können sich schneller vernetzen, Aktionen planen. Das Internet beschleunigt und flankiert den Protest, doch ganz ins Virtuelle verlagert hat er sich eben nicht. Die Straße ist ein Ort des lebendigen, öffentlichen Diskurses geblieben.
Doch was ist mit den Wutbürgern? Auch Frust über die eigene Lebenslage, das Gefühl, von „denen da oben“nicht wahrgenommen zu werden, und allgemeine Unzufriedenheit mit den Zumutungen von Demokratie treiben Menschen auf die Straße. Und manchmal eben auch Rassismus und blanker Hass.
Straßenproteste sind nicht per se ein Zeichen für eine vitale Demokratie, sie können auch Signale für deren Krise sein. Etwa wenn hetzerische Symbole verwendet, agitatorische Auftritte toleriert, Minderheiten verunglimpft und Beobachter von der Presse an ihrer Arbeit gehindert werden. Oder wenn Radikale wie beim G20-Gipfel in Hamburg einen Massenprotest nutzen, um Schlachten mit der Polizei anzuzetteln. Demo ist nicht gleich Demo, sie lassen sich unterscheiden – am Inhalt, aber auch in der Form.
Straßenproteste versammeln Menschen in großer Zahl, sind physisch, nicht abstrakt, und entwickeln ihre eigene Dynamik. Das ist Reiz und Gefahr zugleich und verschafft noch immer große Aufmerksamkeit – das höchste Gut im politischen Prozess.
„Hautnahes Erleben kann Massen mobilisieren“Dieter Rucht
Soziologe