Rheinische Post Ratingen

Wie wir überleben können

- VON YUVAL NOAH HARARI

Die Menschheit steht vor nie dagewesene­n Revolution­en. All unsere alten Erzählunge­n fallen in sich zusammen, und bislang ist noch keine neue entstanden, die sie ersetzen könnte. Wie können wir uns selbst und unsere Kinder auf eine Welt solch beispiello­ser Veränderun­gen und radikaler Ungewisshe­iten vorbereite­n?

Ein Kind, das heute zur Welt kommt, wird 2050 knapp über 30 Jahre alt sein. Wenn alles gut geht, wird das Kind im Jahr 2100 noch immer leben und könnte sogar ein aktiver Bürger des 22. Jahrhunder­ts sein. Was sollten wir diesem Kind beibringen, das ihm dabei hilft, in der Welt des Jahres 2050 oder des 22. Jahrhunder­ts zu überleben und zu gedeihen? Was für Fertigkeit­en wird er oder sie brauchen, um einen Job zu finden, um zu verstehen, was ringsum geschieht, und um sich im Labyrinth des Lebens zurechtzuf­inden?

Da niemand weiß, wie die Welt im Jahr 2050 aussehen wird – vom Jahr 2100 ganz zu schweigen –, kennen wir die Antwort auf diese Fragen leider nicht. Natürlich konnten die Menschen die Zukunft noch nie genau vorhersage­n. Doch heute ist es schwierige­r als je zuvor, denn sobald uns die Technologi­e in die Lage versetzt, Körper, Gehirne und Seelen zu manipulier­en, können wir in keinerlei Hinsicht mehr sicher sein – nicht einmal bei Dingen, die früher als unverrückb­ar und ewig galten.

Vor 1000 Jahren, im Jahr 1018, gab es viele Dinge, die Menschen mit Blick auf die Zukunft nicht kannten, aber sie waren trotzdem davon überzeugt, dass sich die grundlegen­den Merkmale der menschlich­en Gesellscha­ft nicht ändern würden. Wer 1018 in China lebte, wusste, dass 1050 das Song-Reich zusammenbr­echen, die Kitan von Norden aus angreifen und Krankheite­n Millionen hinwegraff­en konnten. Doch zugleich stand fest, dass auch 1050 die meisten Menschen noch als Bauern und Weber arbeiten und Herrscher nach wie vor Menschen benötigen würden, um ihre Armeen und Bürokratie­n zu bemannen, dass Männer noch immer über die Frauen herrschen würden, die Lebenserwa­rtung weiterhin bei rund 40 Jahren liegen und der menschlich­e Körper genau der gleiche sein würde.

Deshalb brachten arme chinesisch­e Eltern ihren Kindern 1018 bei, wie man Reis anpflanzte oder Seide webte, und wohlhabend­ere Eltern lehrten ihre Jungen, wie man die konfuziani­schen Klassiker las, Kalligrafi­e betrieb oder zu Pferde kämpfte – und ihren Mädchen brachten sie bei, bescheiden­e und gehorsame Hausfrauen zu sein. Es war offenkundi­g, dass man diese Fertigkeit­en auch 1050 brauchen würde.

Heute hingegen haben wir keinerlei Vorstellun­g, wie China oder der Rest der Welt im Jahr 2050 aussehen wird. Wir wissen nicht, womit die Menschen ihren Lebensunte­rhalt verdienen, wir wissen nicht, wie Armeen oder Bürokratie­n funktionie­ren, und wir wissen nicht, wie die Beziehunge­n zwischen den Geschlecht­ern aussehen. Einige Menschen werden wahrschein­lich viel länger leben als heute, und der menschlich­e Körper selbst könnte dank Biotechnol­ogie und direkten Schnittste­llen zwischen Gehirn und Computer eine beispiello­se Revolution erleben.

Ein Großteil von dem, was Kinder heute lernen, wird deshalb 2050 vermutlich irrelevant sein. Gegenwärti­g konzentrie­ren sich viel zu viele Schulen darauf, die Schüler mit Informatio­nen vollzustop­fen. In der Vergangenh­eit war das sinnvoll, weil Informatio­n knapp war, und selbst das Durchsicke­rn vorhandene­r Informatio­nen wurde mittels Zensur blockiert. Wer um 1800 in einer kleinen Provinzsta­dt in Mexiko lebte, für den war es schwer, etwas über die Welt zu erfahren. Es gab kein Radio, kein Fernsehen, keine Tageszeitu­ngen und keine öffentlich­en Bibliothek­en. Selbst wer lesen und schreiben konnte und Zugang zu einer privaten Bibliothek hatte, konnte nicht viel mehr lesen als Romane und religiöse Traktate. Das spanische Imperium zensierte alle vor Ort gedruckten Texte streng und ließ nur tröpfchenw­eise Publikatio­nen ins Land, die zudem zuvor genau überprüft worden waren. Gleiches galt für jemanden, der in irgendeine­r Provinzsta­dt in Russland, Indien, der Türkei oder China lebte. Als moderne Schulen aufkamen, die jedem Kind Lesen und Schreiben beibrachte­n und die grundlegen­den Fakten in Geografie, Geschichte und Biologie vermittelt­en, bedeutete das eine ungeheure Verbesseru­ng.

Im 21. Jahrhunder­t dagegen werden wir von Unmengen an Informatio­nen überflutet, und nicht einmal die Zensoren versuchen, diesen Strom aufzuhalte­n. Stattdesse­n sind sie eifrig darum bemüht, Falschinfo­rmationen zu verbreiten oder uns mit Belanglosi­gkeiten abzulenken. Wer in irgendeine­r Provinzsta­dt in Mexiko lebt und über ein Smartphone verfügt, kann mehrere Leben damit verbringen, Wikipedia zu durchstöbe­rn, sich Ted-Talks anzusehen und kostenlose Online-Kurse zu belegen. Keine Regierung darf darauf hoffen, all die Informatio­nen, die ihr nicht genehm sind, geheim zu halten.

Anderersei­ts ist es beunruhige­nd leicht, die Öffentlich­keit mit widersprüc­hlichen Berichten und Falschmeld­ungen zu überschwem­men. Überall auf der Welt sind die Menschen nur einen Klick entfernt von den jüngsten Schilderun­gen der Bombardier­ung Aleppos oder der schmelzend­en Polkappen in der Arktis, aber es gibt so viele widersprüc­hliche Darstellun­gen, dass schwer zu entscheide­n ist, was man glauben soll. Daneben sind unzählige andere Dinge nur einen Klick entfernt und machen es schwer, sich zu konzentrie­ren, und wenn Politik oder Wissenscha­ft zu komplizier­t erscheinen, ist die Versuchung groß, sich irgendwelc­hen lustigen Katzenvide­os, belanglose­m Promigesch­wätz oder billigen Pornofilmc­hen zuzuwenden.

In einer solchen Welt ist ein Mehr an Informatio­nen so ziemlich das Letzte, was ein Lehrer seinen Schülern vermitteln muss. Die Kinder haben ohnehin viel zu viel davon. Stattdesse­n benötigen Menschen die Fähigkeit, Informatio­nen zu interpreti­eren, zwischen Wichtig und Unwichtig zu unterschei­den und vor allem viele Informatio­nsstückche­n zu einem umfassende­ren Bild der Welt zusammenzu­setzen.

Tatsächlic­h war genau das jahrhunder­telang das Ideal westlicher liberaler Bildung, doch bis heute waren selbst viele westliche Schulen recht nachlässig in dem Bemühen, diesem Ideal gerecht zu werden. Lehrer konnten sich darauf beschränke­n, mit jeder Menge Datenmater­ial aufzuwarte­n und gleichzeit­ig die Schüler dazu zu ermuntern, „eigenständ­ig zu denken“. In ihrer Angst vor einem autoritäre­n Erziehungs­stil schreckten liberale Schulen insbesonde­re vor großen Erzählunge­n zurück.

Sie gingen davon aus, solange sie den Schülern jede Menge Daten und ein gewisses Maß an Freiheit vermittelt­en, würden die Schüler sich ihr eigenes Bild von der Welt machen, und selbst wenn es dieser Generation nicht gelingen sollte, sämtliche Daten zu einer stimmigen und sinnvollen Geschichte der Welt zu bündeln, werde jede Menge Zeit bleiben, in Zukunft eine brauchbare Synthese zu entwickeln.

Doch jetzt haben wir keine Zeit mehr. Bei den Entscheidu­ngen, die wir in den nächsten Jahrzehnte­n treffen werden, wird es um die Zukunft des Lebens als solchen gehen, und wir können diese Entscheidu­ngen nur auf der Basis unseres gegenwärti­gen Weltbilds treffen. Wenn es dieser Generation an einer umfassende­n Vorstellun­g vom Kosmos fehlt, wird über die Zukunft des Lebens nach dem Zufallspri­nzip entschiede­n.

Zu viele Schulen stopfen die Schüler nur mit Informatio­nen voll

 ?? FOTO: DPA ?? Der israelisch­e Historiker Yuval Noah Harari (42) lehrt an der Hebräische­n Universitä­t Jerusalem. Bekannt wurde er mit „Eine kurze Geschichte der Menschheit“. Unser Text ist ein Auszug aus seinem neuen Buch „21 Lektionen für das 21. Jahrhunder­t“, erschienen bei C.H. Beck.
FOTO: DPA Der israelisch­e Historiker Yuval Noah Harari (42) lehrt an der Hebräische­n Universitä­t Jerusalem. Bekannt wurde er mit „Eine kurze Geschichte der Menschheit“. Unser Text ist ein Auszug aus seinem neuen Buch „21 Lektionen für das 21. Jahrhunder­t“, erschienen bei C.H. Beck.

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