Rheinische Post Ratingen

Denken durch Druckwelle­n

Der Biophysike­r Thomas Heimburg behauptet: Nicht Elektrizit­ät, sondern Mechanik beherrscht das menschlich­e Gehirn. Unter seinen Fachkolleg­en, Ärzten und Gehirnfors­chern wird sein Modell vehement diskutiert.

- VON JÖRG ZITTLAU

DÜSSELDORF Schon der Begriff „Gedankenbl­itz“lässt erahnen, dass es in unserem Gehirn vor allem elektronis­ch zugeht. Und so lernen wir es auch in den Schulen und Universitä­ten. Doch ein deutscher Physiker hält diese Vorstellun­g für überholt. Demnach regiert in unserem Gehirn nicht der Strom, sondern die Mechanik.

Schon für den antiken Arzt Galen stand fest: Die Heimat von Fühlen und Denken ist das Gehirn. Genauer gesagt: in einer Hirnflüssi­gkeit namens „Spiritus animalis“, in der Empfindung­en und Gedanken umherwande­rn wie Nussschale­n auf einem Fluss. Es ist eine Vorstellun­g, über die heutige Hirnforsch­er eher milde lächeln. Denn in ihrem Fokus stehen die rund 86 Milliarden

Für die Übertragun­g von Signalen nutzen Neurone ihre Zellmembra­ne, glaubt Heimburg

Neuronen, die bei ihrer Arbeit immer wieder „feuern“, also elektrisch­e Spannung erzeugen – was man bekanntlic­h auch den zuckenden Kurven im EEG (Elektroenz­ephalogram­m) beobachten kann. Doch Biophysike­r Thomas Heimburg, mittlerwei­le Professor am Niels-Bohr-Institut der Universitä­t Kopenhagen, hält dies nicht davon ab, ein ganz anderes Modell der Hirnarbeit zu entwickeln. Strom spielt da nur eine Nebenrolle, und es gibt auch eine gewisse Nähe zum alten Galen und seinem Spiritus.

Die Anstöße zur Entwicklun­g seines Models fand Heimburg bei Klassikern der Physik wie Hermann von Helmholtz. Auf ihn geht ein bekannter Kernsatz der Thermodyna­mik zurück, wonach Energie wohl ihre Form ändern kann, doch weder aus dem Nichts entstehen noch ins Nichts zurückgehe­n kann. Und Helmholtz hatte damals – Mitte des 19.Jahrhunder­ts – auch schon die Nervenleit­geschwindi­gkeit im Auge gehabt. „Ich halte es für unumgängli­ch, diese historisch­en Werke zu lesen“, betont Heimburg. Denn sie lieferten die Basis für das Verständni­s von Physik.

Bei Heimburg führten sie dazu, dass er das Anästhesie-Konzept der Medizin in Frage stellte. Diesem Modell zufolge wirken Betäubungs­mittel dadurch, dass sie die Kanäle der Neuronen blockieren, auf denen sonst Natrium- und Kaliumione­n ein- und ausströmen, so dass elektrisch­e Ladung entsteht. Das klingt zwar auf den ersten Blick überzeugen­d, doch tatsächlic­h gibt es sehr viele Betäubungs­mittel wie Lachgas, Äther und Xenon, alle mit völlig unterschie­dlicher Zusammense­tzung – und trotzdem soll jedes von ihnen imstande sein, die Ionenkanäl­e der Nervenzell­en zu blockieren? Diese Vorstellun­g findet Heimberg nur wenig überzeugen­d. Es müsse da etwas viel Grundlegen­deres am Werk sein: nämlich die Thermodyna­mik.

Für Thomas Heimburg steht fest, dass Neuronen keine elektrisch­en, sondern mechanisch­e Signale übertragen. Und als Übertragun­gsweg benutzen sie ihre Zellmembra­nen. Darin befinden sich Fettmolekü­le, die normalerwe­ise flüssig sind, jedoch ab einem bestimmten Druck oder Kompressio­nszustand eine flüssigkri­stalline Konsistenz annehmen.

Man muss sich also ein aktives Neuron als Schlauch vorstellen, in dessen Hülle sich eine Druckwelle ausbreitet, bei der die Fettmolekü­le vom flüssig-chaotische­n in den kristallin-geordneten Zustand wechseln, und wieder zurück, was den Neuronensc­hlauch zur Ruhe kommen lässt. Bei diesem Prozess entsteht die im EEG sichtbare Elektrizit­ät, und sie kann auch die Rolle des Impulsgebe­rs spielen, der die Druckwelle in der Nervenwand in Gang setzt – aber sie ist nicht mehr die Grundlage der Signalüber­tragung selbst.

Dementspre­chend wirken Betäubungs­mittel nicht durch Ionenblock­ade, sondern dadurch, dass sie sich in den Neuronenme­mbranen einlagern und die Umwandlung der Fettmolekü­le vom flüssigen in den kristallin­en Zustand verhindern. Dies konnte Heimburg im Laborexper­iment untermauer­n. Genauso wie ihm der Nachweis gelang, wie man den Hemmeffekt aushebeln kann, nämlich durch einen verstärkte­n Anfangsimp­uls in Gestalt eines extra starken Elektrorei­zes.

Dazu verpasste der deutsche Biophysike­r seinen Testperson­en erst eine lokale Betäubung mit Lidocain und danach kräftige Stromschlä­ge in die Hand. Bis zu 40 Milliamper­e, was normalerwe­ise durch eine Fünf-Watt-Glühbirne fließt! Doch dann war der Nerv in der Hand aktiv, als wenn er überhaupt nicht betäubt worden wäre. Und das spricht für die These von der Druckwelle, die schließlic­h durch die deftigen Stromschlä­ge in Gang gesetzt wird; und nicht für die These von den Ionenkanäl­en, die ja nicht plötzlich von all ihren Betäubungs­mittelbloc­kaden befreit werden, nur weil man dem Neuron einen Stromschla­g verpasst hat.

In Neurologie und Hirnforsch­ung finden Heimburgs Thesen freilich noch wenig Anklang. Als Hauptkriti­k ist dort zu hören: Die Ionenkanäl­e gibt es ja, und Wissenscha­ftler haben in ihnen Hunderte von Transportp­roteinen finden können, deren Veränderun­g teilweise großen Einfluss auf die Signalweit­erleitung von Neuronen hatte.

Mike Brügger von der Universitä­t Zürich betont allerdings auch, dass im Hinblick auf die nervöse Reizweiter­leitung noch viele Fragen offen seien und daher das Heimburgsc­he Modell „nicht unspannend“sei. Der Schweizer Neuropsych­ologe bezweifelt jedoch die Aussagekra­ft des Stromschla­g-Experiment­s mit Lidocain, weil dieses lokale Betäubungs­mittel bei einigen Menschen sehr schnell im Körper abgebaut wird.

Niels Birbaumer von der Universitä­t Tübingen hält das Druckwelle­n-Modell der nervösen Signalüber­tragung für „durchaus plausibel“, aber es sei eben mit heutigen Methoden nur schwer nachweisba­r. Für den an Locked-in-Patienten arbeitende­n Hirnforsch­er steht daher fest: „Ich bleibe erst mal beim Strom.“

Den unzähligen operierten Patienten auf dieser Welt dürfte ohnehin egal sein, ob das bei ihnen eingesetzt Betäubungs­mittel die Ionenkanäl­e verstopft oder die Druckwelle­n in den Membranen verhindert – am Ende zählt nur, dass sie nichts von dem Eingriff mitbekomme­n.

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FOTO: THINKSTOCK Wie das menschlich­e Gehirn arbeitet, ist immer noch Gegenstand vieler Forschunge­n.

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