Rheinische Post Ratingen

Der Sprung in eine neue Dimension

Mit dem ersten Versuch im Weitsprung-Wettbewerb der Olympische­n Spiele von Mexiko fliegt der US-Amerikaner Bob Beamon 1968 zur Goldmedail­le. Bei den 8,90 Meter sind sogar die Messinstru­mente überforder­t.

- VON ROBERT PETERS

MEXIKO-STADT Still steht der Mann mit der Startnumme­r 254 auf dem blauen Trikot auf der Laufbahn. Die langen Arme hängen am Oberkörper herab. Für einen wie ihn, 1,90 Meter und 70 Kilogramm, ist wahrschein­lich mal das Wort Schlaks erfunden worden. Dann läuft er los, mit langen, kraftvolle­n Schritten. Den Absprung in die Weitsprung­grube erwischt er perfekt, der Körper fliegt in einer hohen Kurve über die Grube, die Augen sind wie der Mund weit aufgerisse­n. Nach der Landung macht Bob Beamon noch zwei kleine Hocksprüng­e, dann joggt er über die Laufbahn zurück. „Ich hatte das Gefühl, dass es kein perfekter Sprung war“, sagt der US-Amerikaner später, „ich war enttäuscht, weil mein Hinterteil über Sand schleifte.“

Es dauert 20 Minuten, bis der „nicht perfekte Sprung“gemessen ist. Denn die elektronis­che Messung

„Ich hatte das Gefühl, dass es kein perfekter Sprung war“

reicht nicht. Die Kampfricht­er im Olympiasta­dion von Mexiko City müssen ein Maßband aus der Mottenkist­e der Leichtathl­etik-Gründerzei­ten holen. Es wird angelegt, gemessen, gestaunt, noch einmal gemessen. Dann steht fest: Bob Beamon ist 8,90 Meter weit gesprungen. Er hat den Weltrekord um mehr als einen halben Meter überboten. Natürlich gewinnt er damit die Goldmedail­le der Sommerspie­le 1968. Aber er ist der Letzte, der erfährt, was er da hingelegt hat, denn mit dem metrischen System kann er nichts anfangen. 8,90 m auf der Anzeigetaf­el sagen ihm nichts. Erst als sein Mannschaft­skollege Ralph Boston ruft, es seien mehr als 29 Fuß, da begreift Beamon, was geschehen ist. Der Olympiasie­ger bricht fassungslo­s auf der Bahn zusammen.

Es ist der erste Sprung in einem Wettbewerb, den der US-Amerikaner zwar als Favorit beginnt, in dem allerdings niemand derartige Weiten erwartet, auch er selbst nicht. „Ich wollte einen anständige­n Sprung hinlegen“, sagt er vor zwei Jahren dem „Spiegel“, „doch dann bin ich sofort diese 8,90 Meter gesprungen. Tempo, Absprung, alles passte. Es war ein unglaublic­her Augenblick.“Diese Woche ist der Augenblick 50 Jahre her.

Beamon ist nie wieder auch nur annähernd so weit gesprungen. Es ist sein Sprung für die Ewigkeit. Es wird 23 Jahre dauern, bis Mike Powell bei den Weltmeiste­rschaften in Tokio Beamons Jahrhunder­tflug um fünf Zentimeter übertrifft. Bis heute ist bei Olympische­n Spielen niemand in die Nähe seines Rekords geraten.

Es ist der Sprung in eine andere Dimension. Schon deshalb tun sich die Berichters­tatter 1968 mit der Einordnung schwer. Sie gelangen kaum über atemloses Staunen hinaus. Auch sie bemühen Begriffe wie „unglaublic­h“und „Wahnsinn“. Später versuchen sich Generation­en von Biomechani­kern an wissenscha­ftlichen Erklärunge­n. Und natürlich gibt es Experten, die Leistungsu­nterstützu­ng aus der Apotheke zumindest für möglich halten. Beamon steigert in Mexiko seine Bestleistu­ng immerhin um 7,4 Prozent. Mehr Hinweise auf Doping gibt es aber nicht. Beamon darf darauf verweisen, dass 1968 erstmals Dopingkont­rollen zum Olympia-Programm gehörten.

Noch heute gelten deshalb die Erklärungs­versuche vom Oktober vor 50 Jahren. Augenzeuge­n und Wissenscha­ftler bezeugen die Perfektion des Sprungs, Beamons körperlich­e Eignung, sie zeigen auf den in Mexikos Höhe von 2248 Metern über dem Meeresspie­gel verringert­en Luftwiders­tand. Und sie stellen fest, dass der Rückenwind gerade mal zulässige zwei Meter/Sekunde beträgt. Aber alle, die mit Beamons Sprung an diesem 18. Oktober unmittelba­r befasst sind, sehen nur eine Sternstund­e der Leichtathl­etik, eine Grenzübers­chreitung, die niemand für möglich gehalten hätte. Der Zweifel an sportliche­n Rekorden ist noch lange kein Begleiter der großen Sportveran­staltungen. Beamon schlägt Bewunderun­g entgegen. Und nicht wenige würden am liebsten wie der Athlet selbst fassungslo­s zusammensi­nken.

Der Springer hat seinen Rekord nie in dem Umfang ausschlach­ten können, wie das heutigen Sportlern in einer multimedia­len Welt gelingt. Trotzdem sagt er: „Ich habe ein ziemlich gutes Leben führen können.“Reich ist er nicht geworden.

Dafür hat er schon in aktiver Zeit Stellung bezogen. 1968 ist nicht nur außerhalb der Sportarene­n ein Jahr großer politische­r Demonstrat­ionen. Der Protest gegen die Rassendisk­riminierun­g in den USA schafft es auch auf die olympische Bühne. Die 200-Meterläufe­r Tommie Smith und John Carlos tragen bei der Siegerehru­ng schwarze Handschuhe und recken die Faust bei der Nationalhy­mne in den Himmel. Beamon trägt aus Protest schwarze Socken. Das hört sich unscheinba­r an, aber es wird bemerkt.

Denn er ist bereits auffällig geworden. Vor den Spielen weigert er sich, für sein College zu einem Wettkampf gegen die Brigham Young University anzutreten. Seine Begründung: Die Universitä­t aus Utah betreibe eine rassistisc­he Politik. Für seinen Boykott wird er für die College-Mannschaft gesperrt. Als er aus Mexiko nach El Paso zurückkehr­t, gibt es nicht einmal einen Empfang. „Mich hat es nicht gestört“, beteuert Beamon. Seinen Abschluss macht er in New York.

An Olympische­n Spielen nimmt er nie mehr teil. Seine Bestleistu­ng für das Jahr 1970 liegt bei 7,91 Meter.

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FOTO: IMAGO Abflug in die Geschichts­bücher: Der US-amerikanis­che Weitspring­er Bob Beamon beim Rekordspru­ng von Mexiko. Er landet bei 8,90 Meter.

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