Der Sprung in eine neue Dimension
Mit dem ersten Versuch im Weitsprung-Wettbewerb der Olympischen Spiele von Mexiko fliegt der US-Amerikaner Bob Beamon 1968 zur Goldmedaille. Bei den 8,90 Meter sind sogar die Messinstrumente überfordert.
MEXIKO-STADT Still steht der Mann mit der Startnummer 254 auf dem blauen Trikot auf der Laufbahn. Die langen Arme hängen am Oberkörper herab. Für einen wie ihn, 1,90 Meter und 70 Kilogramm, ist wahrscheinlich mal das Wort Schlaks erfunden worden. Dann läuft er los, mit langen, kraftvollen Schritten. Den Absprung in die Weitsprunggrube erwischt er perfekt, der Körper fliegt in einer hohen Kurve über die Grube, die Augen sind wie der Mund weit aufgerissen. Nach der Landung macht Bob Beamon noch zwei kleine Hocksprünge, dann joggt er über die Laufbahn zurück. „Ich hatte das Gefühl, dass es kein perfekter Sprung war“, sagt der US-Amerikaner später, „ich war enttäuscht, weil mein Hinterteil über Sand schleifte.“
Es dauert 20 Minuten, bis der „nicht perfekte Sprung“gemessen ist. Denn die elektronische Messung
„Ich hatte das Gefühl, dass es kein perfekter Sprung war“
reicht nicht. Die Kampfrichter im Olympiastadion von Mexiko City müssen ein Maßband aus der Mottenkiste der Leichtathletik-Gründerzeiten holen. Es wird angelegt, gemessen, gestaunt, noch einmal gemessen. Dann steht fest: Bob Beamon ist 8,90 Meter weit gesprungen. Er hat den Weltrekord um mehr als einen halben Meter überboten. Natürlich gewinnt er damit die Goldmedaille der Sommerspiele 1968. Aber er ist der Letzte, der erfährt, was er da hingelegt hat, denn mit dem metrischen System kann er nichts anfangen. 8,90 m auf der Anzeigetafel sagen ihm nichts. Erst als sein Mannschaftskollege Ralph Boston ruft, es seien mehr als 29 Fuß, da begreift Beamon, was geschehen ist. Der Olympiasieger bricht fassungslos auf der Bahn zusammen.
Es ist der erste Sprung in einem Wettbewerb, den der US-Amerikaner zwar als Favorit beginnt, in dem allerdings niemand derartige Weiten erwartet, auch er selbst nicht. „Ich wollte einen anständigen Sprung hinlegen“, sagt er vor zwei Jahren dem „Spiegel“, „doch dann bin ich sofort diese 8,90 Meter gesprungen. Tempo, Absprung, alles passte. Es war ein unglaublicher Augenblick.“Diese Woche ist der Augenblick 50 Jahre her.
Beamon ist nie wieder auch nur annähernd so weit gesprungen. Es ist sein Sprung für die Ewigkeit. Es wird 23 Jahre dauern, bis Mike Powell bei den Weltmeisterschaften in Tokio Beamons Jahrhundertflug um fünf Zentimeter übertrifft. Bis heute ist bei Olympischen Spielen niemand in die Nähe seines Rekords geraten.
Es ist der Sprung in eine andere Dimension. Schon deshalb tun sich die Berichterstatter 1968 mit der Einordnung schwer. Sie gelangen kaum über atemloses Staunen hinaus. Auch sie bemühen Begriffe wie „unglaublich“und „Wahnsinn“. Später versuchen sich Generationen von Biomechanikern an wissenschaftlichen Erklärungen. Und natürlich gibt es Experten, die Leistungsunterstützung aus der Apotheke zumindest für möglich halten. Beamon steigert in Mexiko seine Bestleistung immerhin um 7,4 Prozent. Mehr Hinweise auf Doping gibt es aber nicht. Beamon darf darauf verweisen, dass 1968 erstmals Dopingkontrollen zum Olympia-Programm gehörten.
Noch heute gelten deshalb die Erklärungsversuche vom Oktober vor 50 Jahren. Augenzeugen und Wissenschaftler bezeugen die Perfektion des Sprungs, Beamons körperliche Eignung, sie zeigen auf den in Mexikos Höhe von 2248 Metern über dem Meeresspiegel verringerten Luftwiderstand. Und sie stellen fest, dass der Rückenwind gerade mal zulässige zwei Meter/Sekunde beträgt. Aber alle, die mit Beamons Sprung an diesem 18. Oktober unmittelbar befasst sind, sehen nur eine Sternstunde der Leichtathletik, eine Grenzüberschreitung, die niemand für möglich gehalten hätte. Der Zweifel an sportlichen Rekorden ist noch lange kein Begleiter der großen Sportveranstaltungen. Beamon schlägt Bewunderung entgegen. Und nicht wenige würden am liebsten wie der Athlet selbst fassungslos zusammensinken.
Der Springer hat seinen Rekord nie in dem Umfang ausschlachten können, wie das heutigen Sportlern in einer multimedialen Welt gelingt. Trotzdem sagt er: „Ich habe ein ziemlich gutes Leben führen können.“Reich ist er nicht geworden.
Dafür hat er schon in aktiver Zeit Stellung bezogen. 1968 ist nicht nur außerhalb der Sportarenen ein Jahr großer politischer Demonstrationen. Der Protest gegen die Rassendiskriminierung in den USA schafft es auch auf die olympische Bühne. Die 200-Meterläufer Tommie Smith und John Carlos tragen bei der Siegerehrung schwarze Handschuhe und recken die Faust bei der Nationalhymne in den Himmel. Beamon trägt aus Protest schwarze Socken. Das hört sich unscheinbar an, aber es wird bemerkt.
Denn er ist bereits auffällig geworden. Vor den Spielen weigert er sich, für sein College zu einem Wettkampf gegen die Brigham Young University anzutreten. Seine Begründung: Die Universität aus Utah betreibe eine rassistische Politik. Für seinen Boykott wird er für die College-Mannschaft gesperrt. Als er aus Mexiko nach El Paso zurückkehrt, gibt es nicht einmal einen Empfang. „Mich hat es nicht gestört“, beteuert Beamon. Seinen Abschluss macht er in New York.
An Olympischen Spielen nimmt er nie mehr teil. Seine Bestleistung für das Jahr 1970 liegt bei 7,91 Meter.