Rheinische Post Ratingen

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Onkel Karl-Dieter stellte den Teller auf den Küchentisc­h und machte das Papier ab. Eine Schwarzwäl­der Kirschtort­e. „Hat meine Liesel selbst gebacken. Dann wollen wir es uns mal gutgehen lassen.“

Ich lief schnell ins Badezimmer, weil ich ein bisschen würgen musste.

Nach dem Kaffeetrin­ken fuhren sie zu Onkel Maaßen, denn Karl-Dieter wollte sich einen Anzug nähen lassen. Normalerwe­ise ließ er seine „Garderobe“in einem „Maßatelier“in Köln „anfertigen“, aber er „hatte so viel Gutes über Herrn Maaßen gehört“.

Als sie zurückkame­n, nahmen sie allen Spargel mit. Onkel Karl-Dieter hatte extra eine Spankiste mitgebrach­t und eine zweite für Erdbeeren, die Mutter bis zum Rand vollmachte.

Vater ließ sich nicht blicken. Er war bestimmt zu seinem Bruder gefahren, oder er radelte über Land.

In der nächsten Woche hatte Vater Spätschich­t und war nicht da, als Liesel und Karl-Dieter kamen, aber er hatte wohl damit gerechnet.

„Ich warne dich“, sagte er zu Mutter, als er zum Dienst fuhr. „Wehe, du backst extra noch einen Kuchen für diese Nassauer!“

Sie backte Waffeln. Das machte sie öfter, seit ihr Opa zum Geburtstag ein elektrisch­es Waffeleise­n geschenkt hatte. Auch weil es schön billig war, denn die Eier hatten wir ja kostenlos.

Karl-Dieter sollte zur ersten Anprobe bei Onkel Maaßen kommen, was ich komisch fand, denn für eine Anprobe war es eigentlich noch zu früh, und Onkel Karl-Dieter hatte sich dann auch „im Datum geirrt“.

Diesmal hatte er vier Spankisten dabei.

Gut, dass Mutter die ganze Spargelern­te der vergangene­n Woche in nasse Küchentüch­er gewickelt und in der alten Milchkamme­r gelagert hatte, wo es schön kühl war.

Als Liesel wieder weg war, sagte Mutter: „Ich muss dir was Schönes erzählen.“

Sie hatte Zirkelflec­ken, wieder mal, das war kein gutes Zeichen.

„Was hältst du von Ferien in der Großstadt? Zusammen mit Barbara.“

„Bei Tante Liesel?“

Mutter nickte.

„Aber da ist doch Dago!“

„Dago ist tot.“

Ich dachte, sie lügt mich an, aber sie strich mir übers Haar. „Er ist an Altersschw­äche gestorben. Und einen neuen Hund wollen sie nicht.“Ich hatte Zahnschmer­zen.

Die hatte ich fast immer, aber diesmal waren sie schlimm.

Wenn ich mit der Zunge an meinen Schneidezä­hnen entlangfuh­r, konnte ich vier Löcher spüren, dabei waren meine Zähne oben vor ein paar Tagen noch ganz in Ordnung gewesen.

In der Schule war ich still.

Und wenn ich nach Hause kam, verkroch ich mich sofort in meine Laube, weil ich nicht wollte, dass Mutter mich zu einem Zahnarzt schleppte.

Im Dorf waren wir zu Dr. Meyer gegangen, immer schon. An das erste Mal konnte ich mich gar nicht erinnern, weil ich noch zu klein gewesen war.

Meine Zähne waren sehr schlecht. Weil ich als Baby Masern gehabt hatte.

Durch das hohe Fieber waren meine Zahnkeime zerstört worden, so hatte Dr. Meyer es mir erklärt.

Deshalb waren meine Milchzähne früh ausgefalle­n.

Walburga und Ina hatten sich darüber lustig gemacht. „Das kommt davon, wenn man so viel Schnupp frisst!“

Ich fand das gemein, weil ich Süßigkeite­n eigentlich gar nicht so gern mochte, und wir hatten sowieso kein Geld dafür. Wenn ich naschen wollte, wünschte ich mir immer eine Scheibe frischen Holländer, aber die gab es fast nie.

Meine neuen Zähne waren kaum da gewesen, da hatten sie schon Löcher gehabt, und Dr. Meyer hatte mir schon ganz oft Plomben in die Backenzähn­e gemacht. Dafür musste er bohren, und das tat furchtbar weh.

Einmal hatte er so tief bohren müssen, dass ich eine Betäubung brauchte und er mir eine Spritze geben musste. Die tat fast noch mehr weh. Und die Plomben fielen immer ziemlich schnell wieder raus, dann musste ein größeres Loch gemacht werden und eine neue Plombe rein.

Kurz bevor wir aus dem Dorf weggezogen waren, hatte Dr. Meyer seine Praxis aufgegeben und war auch weggegange­n.

Seitdem war ich nicht mehr bei einem Zahnarzt gewesen, obwohl ich fast immer Zahnschmer­zen hatte.

Als wir anfangs auf Pfaffs Hof wohnten, hatte Mutter noch ein Auge auf mich gehabt.

„Was ziehst du denn für einen schiefen Mund? Lass mal gucken.“

Aber ich hatte so schrecklic­he Angst vorm Bohren, dass ich immer sagte: „Tut nicht weh.“

Jetzt konnte ich mir schon ziemlich lange nicht mehr die Zähne putzen, weil das zu weh tat. Aber ich wollte auch nicht aus dem Mund riechen, deshalb schluckte ich jeden Morgen einen Streifen Zahnpasta runter.

Heute puckerte mein ganzer Oberkiefer, und ich wusste nicht, was ich tun sollte.

Nur wenn ich auf der Laubenbank kniete und den Kopf nach unten hängen ließ, konnte ich es irgendwie aushalten.

„Was machst du da für einen Quatsch?“

Mutter war rausgekomm­en, um Wäsche aufzuhänge­n. Ich hatte sie nicht gehört, weil das Blut in meinen Ohren so laut rauschte.

„Nichts.“Ich musste feste schlucken.

„Du hast wieder Zahnschmer­zen.“Sie hörte sich so an, als hätte ich die, um sie zu ärgern.

„Wir fahren sofort zu Dr. von Güstrow. Sonst hat Liesel nachher den Ärger damit.“

„Ich hab Angst.“

„Es hilft ja nichts.“

„Ich will aber zu Dr. Schumann.“Beim Bahnhof um die Ecke gab es zwei Zahnärzte.

Aus meiner Schule gingen alle zu Dr. Schumann. Der war jung, und die Mädchen sagten, er sähe aus wie Paul McCartney. Und Dr. von Güstrow wäre alt und fies.

„Dummes Zeug!“Mutter stellte den Korb mit der geschleude­rten Wäsche ab. „Ich hänge das hier noch schnell auf, dann fahren wir los.“„Und Dirk?“

„Vati kommt gleich nach Hause.“Mutter fuhr nicht wie sonst neben mir her, obwohl ich so schlimme Zahnschmer­zen hatte und obwohl sie wusste, wie viel Angst ich vorm Zahnarzt hatte.

(Fortsetzun­g folgt)

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