Rheinische Post Ratingen

„Europäer ist, wer es sein will“

Auf dem ganzen Kontinent sollen Künstler bald die Europäisch­e Republik ausrufen. Das Manifest dazu hat Robert Menasse mitverfass­t.

- LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Tonfälle, Mentalität­s-Schrullen, die irgendwie Wienerisch sind. Der Pathos des Nationalis­mus ist mir fremd, und ich will ihn daher nicht für eine höhere Ebene erfinden. Ich gebe zu, dass ich bei der Ode an die Freude eine Träne verdrücken muss. Aber was die allgemeine­n Rahmenbedi­ngungen unseres Lebens betrifft, bin ich fröhlich und engagiert dankbar für Sachlichke­it und Vernunft. Kann man sich in die Europäisch­e Menschenre­chtscharta verlieben? Ja, aber ganz anders als ein Nationalis­t in die nationalen Symbole seiner Besonderhe­it und den Stolz auf den Zufall seines Geburtsort­s.

Das Manifest will viel: den Weg Europas in die gemeinsame Zukunft zeigen mit dem deutlichen Hinweis auf die schuldvers­trickte Vergangenh­eit des Kontinents. Ist das eine ohne das andere nicht zu haben? MENASSE Doch, es wäre schon das eine ohne das andere zu haben. Aber das wollen wir nicht haben. Wer keine Lehren aus der Geschichte zieht, wird in Zukunft die Lehren der Geschichte ziehen müssen, die er jetzt produziert. Und die werden nicht erfreulich sein.

Im Manifest heißt es, dass das Europa der Nationalst­aaten gescheiter­t sei. Woran machen Sie das fest? MENASSE Die Konkurrenz der Nationalst­aaten hat zu einem zweiten Dreißigjäh­rigen Krieg geführt, von 1914 bis 1945. Friedensve­rträge zwischen Nationen haben nichts genützt, es gab trotzdem Krieg, Bündnisse zwischen Nationen sicherten den Frieden nicht, die Nationen sind dennoch übereinand­er hergefalle­n. Das alleine wäre schon Grund genug, die Nationalst­aaterei zu überwinden. Dazu kommt jetzt noch die Globalisie­rung, also die Zertrümmer­ung aller nationaler Souveränit­ät. Jeder Nationalst­aat scheitert gegenüber den Herausford­erungen, die sich daraus ergeben. Sie alle sind längst transnatio­nal, von den Finanzströ­men über die Wertschöpf­ungsketten bis hin zu den ökologisch­en Problemen und den Ansprüchen an Sicherheit und soziale Gerechtigk­eit. Da hilft nur Gemeinscha­ftspolitik. Unser Anspruch ist, diese demokratis­ch zu gestalten. Das ist nicht alternativ­los.

Aber die Alternativ­e wäre eine Misere.

„Europäer ist, wer es sein will“, heißt es. Angesichts der schwierige­n Flüchtling­sdebatte auch hierzuland­e verlangt das viel Souveränit­ät von den „Alt-Europäern“. Zu viel? MENASSE Ja, viel zu viel. So sehr zu viel wie die zehn Gebote, der kategorisc­he Imperativ und die Menschenre­chtsdeklar­ation.

Wie euphorisch sind Sie?

MENASSE Überhaupt nicht. Der Anspruch auf Freiheit, Gleichheit, Solidaritä­t ist ja keine Droge, sondern ein Grundbedür­fnis. Manchmal ist die Verteidigu­ng dieses Anspruchs Notwehr. Euphorisch? Ich bitte Sie.

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