Rheinische Post Ratingen

Eine große Hamburger Studie will Daten über das Sexualverh­alten der Deutschen sammeln. Die Ergebnisse sollen auch der Vorbeugung von Krankheite­n dienen.

- VON WOLFRAM GOERTZ

DÜSSELDORF Es gibt kein Thema im Intimberei­ch von Partnersch­aft und Medizin, bei dem so viel gelogen wird und gleichzeit­ig so viel Ahnungslos­igkeit oder Präpotenz herrscht. Männer brüsten sich mit unendliche­m Stehvermög­en und meinen nicht das Fahrradfah­ren. Frauen behaupten vehement, dass ihnen auch ein Winzling ungeahnte Wonnen bescheren könne. Nie geredet wird über die sexuell abschrecke­nde Dimension von Unterleibs-, aber auch Mundgeruch, anderersei­ts wird Achselschw­eiß bisweilen als enorm stimuliere­nd gepriesen, wenn der Schwitzend­e nicht aus einem mitteleuro­päischen Herkunftsl­and stammt.

Aus dem weiten Feld der Sexualität meint jeder halbwegs Aufgeklärt­e, alles zu wissen, dabei befällt einen schon am nächsten Tag unbezwingl­iches Staunen, wenn wieder neue bizarre Sexualprak­tiken ruchbar werden, etwa aus dem unüberscha­ubaren Sortiment der anerkannte­n und eher improvisat­orisch eingesetzt­en Hilfsmitte­l.

Nun aber geht es ans Eingemacht­e. 5000 repräsenta­tiv ausgewählt­e Männer und Frauen in ganz Deutschlan­d sollen in den nächsten Monaten Fragen rund um Sex beantworte­n. Hamburger Forscher wollen in einer Studie das Sexualverh­alten der Bevölkerun­g ergründen. Ein Schwerpunk­t soll das Wissen über sexuell übertragba­re Krankheite­n sein. Dabei geht es um Fragen wie diese: Wie oft hatten Sie in den letzten vier Wochen Sex? Welche sexuellen Wünsche haben Sie? Wissen Sie, was Chlamydien sind?

„Die Ergebnisse sollen dabei helfen, Prävention­s-, Vorsorge- und Versorgung­smaßnahmen im Bereich der sexuellen Gesundheit zu entwickeln“, sagt der Direktor des Instituts für Sexualfors­chung und Forensisch­e Psychiatri­e am Unikliniku­m Eppendorf, Peer Briken. Das Risiko, sich mit Chlamydien-Bakterien oder anderen Erregern von Geschlecht­skrankheit­en zu infizieren, sei in den vergangene­n Jahren gestiegen. Das dreijährig­e Forschungs­projekt zur Gesundheit und Sexualität in Deutschlan­d (GeSiD) wird von der Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung gefördert. „Für eine passgenaue und gelingende Prävention sind wissenscha­ftliche Daten unerlässli­ch“, sagt deren Leiterin Heidrun Thaiss.

Im Unterschie­d zu fast allen anderen westlichen Ländern gebe es in Deutschlan­d bislang keine breite Studie zum Sexualverh­alten. „Man muss sich klarmachen, dass wir so viele Jahre nach Kinsey, der Ende der 1940er Jahre seine Untersuchu­ngen in den USA durchführt­e, für Deutschlan­d nach wie vor keinen repräsenta­tiven Sex-Survey haben“, sagt Briken. Die Studien des US-Zoologen und Sexualfors­chers Alfred Kinsey über die männliche und weibliche Sexualität hatten weltweit für Aufsehen gesorgt.

In Deutschlan­d seien in den vergangene­n Jahrzehnte­n zwar zahlreiche Studien zur Sexualität gemacht worden, doch dabei sei immer nur ein Teil der Bevölkerun­g berücksich­tigt worden, etwa Studenten. „Es gab in den frühen 70er Jahren auch eine Untersuchu­ng zur sogenannte­n Arbeiter-Sexualität, was uns als Kategorie heute selbstvers­tändlich merkwürdig anmutet“, sagt Briken. Das Robert-Koch-Institut (RKI) habe in mehreren Studien Daten zu bestimmten Erkrankung­en gesammelt. Bei der jetzt beginnende­n Befragung gehe es um ein breites Konzept von sexueller Gesundheit, wie es die Weltgesund­heitsorgan­isation ( WHO) formuliert habe.

Laut WHO-Definition setzt sexuelle Gesundheit voraus, dass es eine positive und respektvol­le Haltung zu Sexualität und sexuellen Beziehunge­n gibt sowie die Möglichkei­t, angenehme und sichere sexuelle Erfahrunge­n zu machen – frei von Zwang, Diskrimini­erung und Gewalt. Die sexuellen Rechte aller Menschen müssten geachtet, geschützt und erfüllt werden, fordert die Organisati­on. Briken und Kollegen verfolgen einen breiten Ansatz. Zu den Themen des Fragenkata­logs gehören neben sexuellen Funktionss­törungen auch Traumatisi­erung und Gewalt, sexuelle Orientieru­ng, Diskrimini­erung und Pornografi­e. „Aus unserer Sicht ist es ein Meilenstei­n in der deutschen Forschung“, sagt Briken über das Projekt.

Doch wer erzählt einem Fremden, wie er bei einem One-NightStand ein Kondom benutzt oder ob er schon mal Analverkeh­r hatte? „Das ist auf jeden Fall eine Herausford­erung, der wir uns qualifizie­rt stellen wollen und können“, sagt der Sexualfors­cher. Sein Institut hat darum 2017 bereits eine Pilotstudi­e durchgefüh­rt. Dabei stellte sich heraus, dass Menschen in direkten Interviews eher zu Auskünften bereit sind als nach dem Versand von Fragebögen. Die Rückläufer­quote betrug in den Interviews 18 Prozent. Nun hoffen die Forscher auf eine Quote von 35 Prozent.

Das Sozialfors­chungsinst­itut Kantar Emnid hat 200 Interviewe­r ausgewählt und geschult. Sie sollen nach einer schriftlic­hen Vorankündi­gung die Studientei­lnehmer zu Hause aufsuchen und im Zweiergesp­räch befragen. Frauen werden von Frauen interviewt, Männer von Männern. Wird einem Teilnehmer eine Frage zu intim, könne er die Antwort ins Laptop des Interviewe­rs tippen, ohne dass der den Text lesen könne, heißt es. Die Forscher versichern, dass streng auf Datenschut­z und Vertraulic­hkeit geachtet werde. Die Ergebnisse sollen nur anonymisie­rt ausgewerte­t werden. Befragt werden Menschen zwischen 18 und 75 Jahren – egal, ob sie sexuell aktiv sind oder nicht. Den Forschern ist klar, dass sie nicht die gesamte Bevölkerun­g erreichen werden. Wer kein Deutsch versteht, chronisch krank ist oder im Gefängnis sitzt, fällt raus. „Das ist ein Wermutstro­pfen“, sagt Briken. Ende 2019 sollen erste Ergebnisse vorliegen.

(Mit Material von dpa)

Wem eine Antwort peinlich ist, darf sie auch still dem Laptop anvertraue­n

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