Pfaffs Hof
Frau Dr. Wagner übernimmt die Sexta b) mit folgenden Schülerinnen . . .“Meinen Namen las sie als ersten vor, dann kamen noch fünfundvierzig andere.
Frau Dr.Wagner war nicht mehr jung, aber sehr schön. Ihre dunkelroten Haare waren plustrig frisiert, ihr Gesicht matt gepudert. Über einer weißen Hemdbluse trug sie einen dunkelgrünen, grobgewebten Kasack. Sie hatte kluge Augen, schräg mit schwarzer Wimperntusche. Und dann war sie dünn, fast so dünn wie ich.
Der Klassenraum war eigentlich ziemlich groß, aber wir waren so viele, dass man sich zwischen den Tischen und Stühlen durchquetschen musste.
Am hinteren Ende gab es einen Garderobenraum mit Haken an den gegenüberliegenden Wänden. Hier sollten wir unsere Mäntel und Turnbeutel aufhängen.
Es roch nach angebrannter Milch und Leberwurst.
Wir durften uns selbst einen Platz aussuchen. Cornelia und ich ergatterten einen Zweiertisch in der ersten Reihe am Fenster, gleich vorm Lehrerpult.
Der Stuhl war viel zu klein für mich.
Frau Dr.Wagner verteilte Karteikarten. Darauf sollten wir unsere Namen schreiben und sie vor uns stellen, damit alle Lehrer lernten, wie wir hießen.
Dann ließ sie einen Stapel Stundenplanvordrucke von der Kreissparkasse durch die Reihen gehen. Wir mussten uns jede einen nehmen und eintragen, was sie uns diktierte.
Wir würden jeden Tag sechs Stunden Unterricht haben, nur samstags waren es vier.
Auch heute am ersten Schultag durften wir um zwanzig vor zwölf nach Hause gehen.
In der großen Pause gab es für alle Milch oder Kakao, im Sommer kalt, im Winter warm. Die Flaschen holte man sich nach dem Pausenklingeln beim Hausmeister am Ende des unteren Gangs ab. Freitags konnte man dafür grüne Kärtchen kaufen, die vom Hausmeister abgestempelt wurden.
„Wer von euch möchte in diesem Schuljahr das Milchgeld einsammeln?“
Ich drehte mich um. Zwei Mädchen hatten sich gemeldet. Sie hießen beide Silke.
Ich sah auf den Namensschildern, das es auch zwei Cornelias gab, sogar drei Gabrieles, drei Susannes, eine Regine und eine Regina.
Weiter konnte ich mich nicht umgucken, weil Frau Dr.Wagner wieder sprach.
„In den nächsten Tagen müssen wir auch eine Klassensprecherin wählen, aber vorher solltet ihr euch erst einmal richtig kennenlernen.“
Dann zeigte sie uns das Klassenbuch, in das die Lehrer nach jeder Stunde eintragen mussten, was im Unterricht durchgenommen worden war.
Dort gab es auch eine Spalte „Bemerkungen“.
Wenn jemand sich schlecht benahm oder keine Schularbeiten gemacht hatte, wurde es dort aufgeschrieben.
„Und das schlägt sich dann im Zeugnis auf eure Noten in ,Führung’ und ,Häuslicher Fleiß’ nieder. Noch etwas: Die meisten Kollegen, auch Frau Dr. Clemens, wünschen, dass ihr aufsteht, wenn sie die Klasse betreten. Bei mir bleibt ihr bitte sitzen. Hat noch jemand eine Frage?“
Ein Mädchen mit langen Zöpfen, das Adelheid hieß, meldete sich. „Ich muss um ein Uhr gehen, wenn ich den Bus kriegen will“, flüsterte es, rot im Gesicht.
Frau Dr. Wagner nickte ihr freundlich zu. „Alle auswärtigen Schülerinnen dürfen die Schule zehn Minuten früher verlassen. Ihr packt dann sehr leise eure Taschen und geht ebenso leise hinaus.“Sie zeigte auf die große Uhr, die über dem Kartenständer hoch oben an der Wand hing.
„Auf die Uhr könnt ihr euch verlassen. Sollte es trotzdem einmal ein Problem geben, kann jede von euch im Sekretariat kostenlos mit den Eltern telefonieren.“
Frau Dr. Wagner würde unsere Deutschlehrerin sein und wollte zunächst mit uns „Phantasieaufsätze“schreiben, danach sollten wir gemeinsam eine „Lektüre“aussuchen, ein Buch, das wir alle lesen und „diskutieren“würden.
Ich freute mich. Ich schrieb so gern Geschichten und hatte bei Herrn Struwe immer eine Eins gekriegt. Und ein neues Buch war auch toll.
In der zweiten Stunde hatten wir Mathematik bei dem Zwergenopa.
Wir sprangen alle auf, und er nickte anerkennend.
Als Erstes mussten wir unsere Namen auf unsere neuen Rechenhefte schreiben, unser neues Mathematikbuch auf Seite 5 aufschlagen und so viele Aufgaben rechnen, wie wir schafften. Die Hefte wollte er dann mitnehmen, um sich ein Bild davon zu machen, wie unser „Leistungsstand“war.
Er holte einen Aschenbecher und die Tageszeitung aus seiner alten Aktentasche, setzte sich ans Pult, paffte seine Zigarre und las.
In der dritten Stunde hatten wir Englisch bei Frau Pütz, der neuen Lehrerin.
Wieder sprangen wir auf, aber irgendwie merkte sie das gar nicht.
Sie stöckelte herein, stellte ihre Tasche ab und setzte sich mit einer Pobacke aufs Pult.
Die kleine Außenrolle an ihrem Bubikopf zitterte ein bisschen.
„Good morning, pupils. My name is Mary Pütz. What is your name?“Sie zeigte auf mich.
Ich hatte schon oft im Englischbuch geblättert und kannte die ersten Lektionen. Zuerst musste ich schlucken, aber dann sagte ich: „My name is Annemarie.“
„Very good! And what is your name?“
So ging es durch alle Reihen. Frau Pütz – Mrs Pütz – sprach nur englisch mit uns. Wenn jemand etwas auf Deutsch sagte, tat sie so, als würde sie nichts verstehen. Das war ein bisschen seltsam, machte aber Spaß.
Kurz bevor es zur großen Pause schellte, kam Frau Dr. Clemens herein. Wir wussten nicht, was wir tun sollten, es war ja noch Unterricht. Ein paar standen auf, die meisten blieben sitzen.
Frau Dr. Clemens runzelte kritisch die Stirn.
„Wer von euch ist evangelisch?“Die beiden Silkes, Cornelia und ich meldeten uns.
„Gut, kommt bitte mit mir. Ich zeige euch, in welchem Raum ihr nach der Pause Religionsunterricht habt.“
Auf dem Flur warteten zwei Mädchen aus der Sexta a), sie waren auch evangelisch.