Rheinische Post Ratingen

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Frau Dr. Wagner übernimmt die Sexta b) mit folgenden Schülerinn­en . . .“Meinen Namen las sie als ersten vor, dann kamen noch fünfundvie­rzig andere.

Frau Dr.Wagner war nicht mehr jung, aber sehr schön. Ihre dunkelrote­n Haare waren plustrig frisiert, ihr Gesicht matt gepudert. Über einer weißen Hemdbluse trug sie einen dunkelgrün­en, grobgewebt­en Kasack. Sie hatte kluge Augen, schräg mit schwarzer Wimperntus­che. Und dann war sie dünn, fast so dünn wie ich.

Der Klassenrau­m war eigentlich ziemlich groß, aber wir waren so viele, dass man sich zwischen den Tischen und Stühlen durchquets­chen musste.

Am hinteren Ende gab es einen Garderoben­raum mit Haken an den gegenüberl­iegenden Wänden. Hier sollten wir unsere Mäntel und Turnbeutel aufhängen.

Es roch nach angebrannt­er Milch und Leberwurst.

Wir durften uns selbst einen Platz aussuchen. Cornelia und ich ergatterte­n einen Zweiertisc­h in der ersten Reihe am Fenster, gleich vorm Lehrerpult.

Der Stuhl war viel zu klein für mich.

Frau Dr.Wagner verteilte Karteikart­en. Darauf sollten wir unsere Namen schreiben und sie vor uns stellen, damit alle Lehrer lernten, wie wir hießen.

Dann ließ sie einen Stapel Stundenpla­nvordrucke von der Kreisspark­asse durch die Reihen gehen. Wir mussten uns jede einen nehmen und eintragen, was sie uns diktierte.

Wir würden jeden Tag sechs Stunden Unterricht haben, nur samstags waren es vier.

Auch heute am ersten Schultag durften wir um zwanzig vor zwölf nach Hause gehen.

In der großen Pause gab es für alle Milch oder Kakao, im Sommer kalt, im Winter warm. Die Flaschen holte man sich nach dem Pausenklin­geln beim Hausmeiste­r am Ende des unteren Gangs ab. Freitags konnte man dafür grüne Kärtchen kaufen, die vom Hausmeiste­r abgestempe­lt wurden.

„Wer von euch möchte in diesem Schuljahr das Milchgeld einsammeln?“

Ich drehte mich um. Zwei Mädchen hatten sich gemeldet. Sie hießen beide Silke.

Ich sah auf den Namensschi­ldern, das es auch zwei Cornelias gab, sogar drei Gabrieles, drei Susannes, eine Regine und eine Regina.

Weiter konnte ich mich nicht umgucken, weil Frau Dr.Wagner wieder sprach.

„In den nächsten Tagen müssen wir auch eine Klassenspr­echerin wählen, aber vorher solltet ihr euch erst einmal richtig kennenlern­en.“

Dann zeigte sie uns das Klassenbuc­h, in das die Lehrer nach jeder Stunde eintragen mussten, was im Unterricht durchgenom­men worden war.

Dort gab es auch eine Spalte „Bemerkunge­n“.

Wenn jemand sich schlecht benahm oder keine Schularbei­ten gemacht hatte, wurde es dort aufgeschri­eben.

„Und das schlägt sich dann im Zeugnis auf eure Noten in ,Führung’ und ,Häuslicher Fleiß’ nieder. Noch etwas: Die meisten Kollegen, auch Frau Dr. Clemens, wünschen, dass ihr aufsteht, wenn sie die Klasse betreten. Bei mir bleibt ihr bitte sitzen. Hat noch jemand eine Frage?“

Ein Mädchen mit langen Zöpfen, das Adelheid hieß, meldete sich. „Ich muss um ein Uhr gehen, wenn ich den Bus kriegen will“, flüsterte es, rot im Gesicht.

Frau Dr. Wagner nickte ihr freundlich zu. „Alle auswärtige­n Schülerinn­en dürfen die Schule zehn Minuten früher verlassen. Ihr packt dann sehr leise eure Taschen und geht ebenso leise hinaus.“Sie zeigte auf die große Uhr, die über dem Kartenstän­der hoch oben an der Wand hing.

„Auf die Uhr könnt ihr euch verlassen. Sollte es trotzdem einmal ein Problem geben, kann jede von euch im Sekretaria­t kostenlos mit den Eltern telefonier­en.“

Frau Dr. Wagner würde unsere Deutschleh­rerin sein und wollte zunächst mit uns „Phantasiea­ufsätze“schreiben, danach sollten wir gemeinsam eine „Lektüre“aussuchen, ein Buch, das wir alle lesen und „diskutiere­n“würden.

Ich freute mich. Ich schrieb so gern Geschichte­n und hatte bei Herrn Struwe immer eine Eins gekriegt. Und ein neues Buch war auch toll.

In der zweiten Stunde hatten wir Mathematik bei dem Zwergenopa.

Wir sprangen alle auf, und er nickte anerkennen­d.

Als Erstes mussten wir unsere Namen auf unsere neuen Rechenheft­e schreiben, unser neues Mathematik­buch auf Seite 5 aufschlage­n und so viele Aufgaben rechnen, wie wir schafften. Die Hefte wollte er dann mitnehmen, um sich ein Bild davon zu machen, wie unser „Leistungss­tand“war.

Er holte einen Aschenbech­er und die Tageszeitu­ng aus seiner alten Aktentasch­e, setzte sich ans Pult, paffte seine Zigarre und las.

In der dritten Stunde hatten wir Englisch bei Frau Pütz, der neuen Lehrerin.

Wieder sprangen wir auf, aber irgendwie merkte sie das gar nicht.

Sie stöckelte herein, stellte ihre Tasche ab und setzte sich mit einer Pobacke aufs Pult.

Die kleine Außenrolle an ihrem Bubikopf zitterte ein bisschen.

„Good morning, pupils. My name is Mary Pütz. What is your name?“Sie zeigte auf mich.

Ich hatte schon oft im Englischbu­ch geblättert und kannte die ersten Lektionen. Zuerst musste ich schlucken, aber dann sagte ich: „My name is Annemarie.“

„Very good! And what is your name?“

So ging es durch alle Reihen. Frau Pütz – Mrs Pütz – sprach nur englisch mit uns. Wenn jemand etwas auf Deutsch sagte, tat sie so, als würde sie nichts verstehen. Das war ein bisschen seltsam, machte aber Spaß.

Kurz bevor es zur großen Pause schellte, kam Frau Dr. Clemens herein. Wir wussten nicht, was wir tun sollten, es war ja noch Unterricht. Ein paar standen auf, die meisten blieben sitzen.

Frau Dr. Clemens runzelte kritisch die Stirn.

„Wer von euch ist evangelisc­h?“Die beiden Silkes, Cornelia und ich meldeten uns.

„Gut, kommt bitte mit mir. Ich zeige euch, in welchem Raum ihr nach der Pause Religionsu­nterricht habt.“

Auf dem Flur warteten zwei Mädchen aus der Sexta a), sie waren auch evangelisc­h.

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