Rheinische Post Ratingen

„Die EU braucht eine echte Regierung“

Der ehemalige Bundeskanz­ler über die Rolle Europas, seine Beziehunge­n zu Wladimir Putin und die Zukunft der SPD.

- MICHAEL BRÖCKER UND THOMAS THELEN FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

einem pro-europäisch­en Fokus gewährleis­tet ist, gibt es diese Stabilität auch nicht in der EU. Insofern ist das eine Schicksals­wahl.

Machen nationale Egoismen den europäisch­en Traum kaputt? SCHRÖDER Das ist die negative Konsequenz, wenn Europa es nicht schafft, Fortschrit­t und Wohlstand spürbar für die Menschen zu erhalten. Das geht nur mit einem Mehr an Europa. Ein Zurück zu nationaler Eigenständ­igkeit wäre ein großer Irrtum. Dann werden wir zerrieben zwischen der ökonomisch­en und politische­n Supermacht USA und der dynamische­n und aufstreben­den Supermacht China. Europa muss seine eigene Rolle finden, seine Interessen als Kontinent wahren. Ich glaube, dass die EU ihre Kräfte bündeln und stärker politisch zusammenar­beiten muss. Und sie muss gleichbere­chtigte Partnersch­aften schließen. Wir brauchen einen engen wirtschaft­lichen Austausch mit China, Stichwort: Neue Seidenstra­ße. Wir dürfen den Draht zur Türkei, auch wenn dort die innenpolit­ische Lage schwierig ist, nicht abreißen lassen. Und wir müssen die Partnersch­aft zu Russland revitalisi­eren. Die Zukunft Europas kann nur in einer engeren Zusammenar­beit liegen. Brexit hin oder her.

Eine Äquidistan­z zwischen dem alten transatlan­tischen Partner USA und Russland?

SCHRÖDER Die Werte, die uns im transatlan­tischen Bündnis ausmachen, werden von den USA infrage gestellt. Der US-Präsident handelt nach dem Motto „America first“und will uns vorschreib­en, mit wem wir Handel treiben sollen. Darum sollten wir unsere eigenen Interessen definieren, wenn wir in zehn bis 15 Jahren noch eine Rolle in der Weltpoliti­k spielen wollen. Und dazu brauchen wir Partner, zu denen trotz der gegenwärti­gen Verwerfung­en auch Russland zählen wird.

Und eine Partnersch­aft mit Ihrem Freund Wladimir Putin rettet Europa? SCHRÖDER Es geht nicht um Herrn Putin. Es geht um das strategisc­he Interesse Deutschlan­ds in der Energieund Wirtschaft­spolitik und um Frieden und Stabilität in ganz Europa. Die USA haben andere Interessen bezüglich Russland. Sie wollen Russland kleinhalte­n, weil sie neben China keinen zweiten weltpoliti­schen Konkurrent­en haben wollen. Das kann ich nachvollzi­ehen. Aber das muss ja nicht für Europa gelten. Zwischen Europa und Russland ist kein Atlantik, das Land ist unser unmittelba­rer Nachbar. Und das bleibt Russland mit oder ohne einen Präsidente­n Putin. Diese Fixierung auf Herrn Putin hilft nicht. Und: Ohne Russland gibt es keinen dauerhafte­n Frieden auf unserem Kontinent. Diese Erkenntnis war Grundpfeil­er der Politik aller Bundeskanz­ler.

In unserem Interesse ist es, dass kein Land in Europa ein anderes angreift und völkerrech­tswidrig annektiert.

SCHRÖDER Wenn Sie damit die Krim meinen: Glauben Sie ernsthaft, dass irgendein russischer Präsident dies in Zukunft wieder rückgängig machen wird? Diese Realität wird man eines Tages anerkennen müssen. Übrigens war die Krim, die bis dahin zu Russland gehörte, 1954 ein Geschenk des sowjetisch­en Machthaber­s Chruschtsc­how an die damals zum Sowjetreic­h gehörende Ukraine. Er dachte, dass der Sowjetkomm­unismus so alt werden würde wie die katholisch­e Kirche. Das ist zum Glück ja nicht so eingetrete­n.

Man kann Geschenke nicht einfach zurückford­ern.

SCHRÖDER Wenn das so einfach wäre in der internatio­nalen Politik.

Was meinen Sie konkret mit einem Mehr an Europa?

SCHRÖDER Zum Beispiel das Reformpake­t zur Stärkung der Eurozone, an dem Bundesfina­nzminister Scholz arbeitet. Die europaweit­e Arbeitslos­enversiche­rung ist ein kluger Vorschlag, der mit Frankreich­s durchzuset­zen wäre. Mit einem gemeinsame­n Fonds würden die Arbeitslos­enversiche­rungen in Krisenstaa­ten abgesicher­t, damit es zu keinen Kürzungen der Sozialleis­tungen kommt. Das ist keine Transferun­ion, da diese Kredite mit Rückzahlun­gsverpflic­htungen verbunden sind, sondern das ist gelebte europäisch­e Solidaritä­t. Das ähnelt dem, was Deutschlan­d im nationalen Maßstab in der Finanzkris­e 2008 mit dem Kurzarbeit­ergeld gemacht hat. Es ist ein Schutzmech­anismus für wirtschaft­lich schwierige Zeiten. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Man muss jetzt auch mal den Mut aufbringen und handeln.

Ein EU-Finanzmini­ster wäre in Deutschlan­d kaum vermittelb­ar.

SCHRÖDER Da bin ich nicht sicher. Es ist ein logischer Schritt, dass die Eurozone politisch mehr Gewicht erhält, zum Beispiel mit einem eigenen Budget und jemandem, der dafür verantwort­lich ist. Auch der Ausbau der gemeinsame­n Bankenunio­n ist richtig.

Die Eurozone als Kerneuropa? SCHRÖDER Ja, genau. Dort ist die wirtschaft­liche Vernetzung am größten. Dieses Kerneuropa muss dann offen sein für jene neuen Mitglieder, die wollen und können. Und als langfristi­ges Ziel muss es eine echte EU-Regierung geben, die vom Parlament kontrollie­rt wird. Das stand schon im Heidelberg­er Programm der SPD 1925. Die EU-Kommission wird noch zu sehr als technokrat­ische Behörde wahrgenomm­en.

Frankreich­s Präsident Macron hat Vorschläge dazu gemacht, die Reaktion aus Berlin war verhalten. SCHRÖDER Leider hat die Bundesregi­erung das Zeitfenste­r verpasst, nach der klugen Sorbonne-Rede des französisc­hen Präsidente­n, in der er der EU Reformen vorgeschla­gen hat, sich mit ihm zusammenzu­setzen und zu verabreden, was geht

und was nicht.

Das Gründungsl­and Italien wendet sich mit seinem Schuldenku­rs doch ab von der EU.

SCHRÖDER Dieses seltsame Bündnis aus Lega Nord und 5-Sterne-Bewegung ist auch nicht meine Wunschregi­erung. Aber ein Konflikt mit Italien bringt doch nichts. Italien hatte auch schon vor der Einführung der Maastricht-Kriterien eine zu hohe Schuldenqu­ote. Trotzdem wollten Helmut Kohl und Theo Waigel Italien bei der Gründung der Eurozone dabei haben. Es spricht nichts dagegen, Ländern mehr Zeit beim Schuldenab­bau zu geben, wenn sie im Gegenzug innenpolit­ische Reformen umsetzen. So hat es Deutschlan­d mit den Agenda-Reformen gemacht. Frankreich hat mehr Zeit bekommen. Und auch Griechenla­nd hat mehr Zeit bekommen und unter großen Schmerzen Reformen umgesetzt. Warum jetzt an Italien ein Exempel statuieren? Das würde die Populisten dort nur noch stärker machen.

Wie sehen Sie die neue Spitzenkan­didatin der SPD für Europa, Katarina Barley?

SCHRÖDER Eine Person mit europäisch­er Vita. Das ist eine gute Entscheidu­ng der SPD.

Sie wurde sanft gedrängt. SCHRÖDER Na ja, gut. Es gibt heute kaum noch Politiker, die an den Zäunen rütteln und sagen: Ich will da rein. Es gibt eher Leute, die am Zaun rütteln und sagen: Ich will da raus.

Was erwarten Sie von der Bundeskanz­lerin in der Europapoli­tik? SCHRÖDER Ehrlich gesagt, ist sie kaum noch in der Lage für einen Aufbruch zu sorgen. Es ist auch nicht ihr Stil, mit Leidenscha­ft und Visionen eine Erneuerung der EU voranzutre­iben, wenn nicht alles mit allen Partnern vorab bis ins letzte Detail abgestimmt ist. Die Kanzlerin hat ihre Verdienste, aber die Reform Europas traue ich ihr nicht mehr zu. Man weiß ja auch nicht, wie lange sie noch im Amt ist.

In Europa verlieren die großen Parteien reihenweis­e Wähler. Warum? SCHRÖDER Die alten Bindungskr­äfte wirken nicht mehr, die Gesellscha­ften sind heterogene­r, die Interessen vielfältig, es gibt eine Stimmung gegen die etablierte­n Parteien. Die Migrations­frage hat zudem viel Vertrauen gekostet bei den Regierungs­parteien. Ergebnis: Die Union ist nur noch eine mittlere, die Unsicherhe­it der Menschen. Darauf muss eine Volksparte­i reagieren.

Es heißt, eine Erneuerung geht nur in der Opposition.

SCHRÖDER Das stimmt doch nicht. Dann müsste der bayerische Landesverb­and der SPD nach 60 Jahren Opposition ja die Speerspitz­e des Erfolgs sein. Man kann gute Regierungs­arbeit leisten und trotzdem mutige, inhaltlich­e Vorschläge machen, die nicht mit dem Koalitions­partner abgesproch­en sind. Olaf Scholz hat das mit der europäisch­en Arbeitslos­enversiche­rung ja gezeigt. Wenn die SPD wieder Vertrauen gewinnen will, muss sie gut regieren. Aber nicht still und unauffälli­g, so dass es keiner merkt. Sondern die Minister müssen das Amt auch nutzen, um Debatten anzustoßen. Warum hat die SPD nicht eine Antwort auf die Macron-Vorschläge, etwa aus dem Finanzmini­sterium, gegeben?

Ist das Spitzenper­sonal erneuerung­sfähig? Olaf Scholz musste schon die Agenda-Reformen 2003 verteidige­n und ist in der SPD bis heute eher geduldet.

SCHRÖDER Er hat die Reformen damals inhaltlich gestützt, weil er – wie ich – davon überzeugt war. Und die Reformen waren ja wirtschaft­lich erfolgreic­h. Jetzt macht er als Finanzmini­ster einen guten Job. Das kann er in der Öffentlich­keit ruhig etwas selbstbewu­sster darstellen.

Was trauen Sie Andrea Nahles zu? SCHRÖDER Die SPD war immer dann erfolgreic­h, wenn sie nicht nur soziale, sondern auch wirtschaft­liche Kompetenz hatte. Wenn es der SPD gelingt, hier wieder das Vertrauen der Bürger zu gewinnen, wird sie Erfolg haben. Wenn nicht, dann wird es auch für die Vorsitzend­e schwierig.

Es braucht also eine Erneuerung an der Spitze der Partei?

SCHRÖDER Der Mensch ist lernfähig. Ich war es in meinem Leben ja auch.

Sie meinen die SPD-Führung? SCHRÖDER Wie gesagt: Der Mensch ist lernfähig. Das darf auch die SPD-Vorsitzend­e für sich in Anspruch nehmen.

Zum Abschluss: Wie fühlt es sich an, die fünfte Ehe?

SCHRÖDER Gut. Ich bin sehr glücklich.

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FOTOS: ANDREAS STEINDL Gerhard Schröder (74) war von Oktober 1998 bis November 2005 der siebte Bundeskanz­ler.
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