Rheinische Post Ratingen

Ein Licht hinter Gittern

Simon hat mehr Zeit im Gefängnis verbracht als in Freiheit. Seit 125 Jahren besucht der Gefängnisv­erein Menschen wie ihn.

- VON MILENA REIMANN

Was ist das für ein Leben, in dem ein leicht vertrocken­etes Lachsbrötc­hen und zwei Kerzenstum­mel das größte Glück sind? In der Justizvoll­zugsanstal­t Düsseldorf bläst Simon die zwei Kerzen aus, die den einfachen Holztisch im Begegnungs­zentrum an diesem Tag geschmückt haben. Er wird sie mit auf seine Zelle nehmen, ebenso wie den Rest der belegten Brötchen, die seit dem Nachmittag unter Folie auf die hungrigen Gäste des Katholisch­en Gefängnisv­ereins gewartet haben. Dass Simon bei der Feier zum 125-jährigen Bestehen des Vereins mit zahlreiche­n Gästen von außerhalb der Mauern dabei sein darf – auch das ist ein Glück. Doch neben den Kerzen ist das vielleicht Beste an diesem Abend für ihn Sabrina.

Was ist das für ein Leben, 44 Jahre lang, in dem mehr Geburtstag­e hinter Gittern gefeiert wurden als vor ihnen? Seit wenigen Wochen erst betreut Sabrina als Ehrenamtli­che den Häftling Simon. Alle zwei Wochen besucht die junge Lehrerin ihn in einem schmucklos­en Raum in der JVA. Es ist der Kern der Arbeit des Gefängnisv­ereins: Gespräche führen mit Inhaftiert­en, ihnen einen Kontakt geben in die Außenwelt, ein Bezugspunk­t sein, mit dem man keine Vorgeschic­hte teil. Dass Simon insgesamt schon 27 Jahre seines Lebens in Gefängniss­en saß, erfährt Sabrina erst, als sie ihn zum ersten Mal trifft. Worüber die Gefangenen mit den Ehrenamtle­rn reden und worüber nicht, ob sie die Wahrheit über ihre Straftat erzählen oder nur eine bestimmte Version davon – das entscheide­n sie selbst.

An diesem Tag ist Sabrina mit Dutzenden Gästen „von draußen“in die JVA gekommen. Am Eingang: eine Schleuse aus dicken Glastüren. Weiße Flure mit Neonlicht. Ein langer Tunnel aus Glas. Er führt mitten über den riesigen Innenhof, auf dem große Schachfigu­ren verloren auf überdimens­ionierten Spielfelde­rn stehen. Gefangene rufen sich gegenseiti­g etwas durch die Gitterfens­ter zu. Was sie sagen, versteht man kaum. Aber dass einer von ihnen lacht, hört man. Am Ende des Ganges dann der Begegnungs­saal. Ein achteckige­r Raum, dessen holzvertäf­elte Wände so verschoben sind, dass eine Nische mit Kreuz und Orgel sichtbar wird.

Simon, im blauen Outfit aus Stoffpullo­ver und Jogginghos­e, sitzt mit einigen anderen Inhaftiert­en bereits im Saal. Sie bilden an diesem Festtag – ebenso wie an Sonntagen – den Kirchencho­r. Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki ist gekommen und spricht bei der Festmesse vom christlich­en Verständni­s, das die Ehrenamtle­r vom Gefängnisv­erein im Herzen trügen: keinen Menschen je aufzugeben.

Für Simon, der einen Rosenkranz um den Hals trägt, ist es das Schwierigs­te, sich nicht selbst aufzugeben. Dreimal, erzählt er, habe er schon versucht, sein Leben zu beenden. „Der Knast ist der Halt meines Lebens“, sagt er. Das tägliche Aufstehen um sechs Uhr. Die Stunde Arbeit am Morgen, wenn er die Zigaretten­stummel im Innenhof aufsammelt. Das Mittagesse­n um zwölf Uhr, das Abendessen um 17 Uhr. Und dazwischen: immer wieder allein sein auf der Zelle. Mit vielen Menschen vor den Mauern hat Simon gebrochen – oder sie mit ihm. Seine Frau, so erzählt er, sei vor wenigen Jahren an einer Krankheit gestorben, seine Tochter wurde mit zwei Jahren überfahren. Was bleibt, sind die Besuche der Ehrenamtle­r. Was bleibt, ist nun Sabrina.

Seit rund sechs Jahren betreut Sabrina Straftäter ehrenamtli­ch. „Ich möchte etwas Normalität in den Alltag bringen“, sagt sie. Sind die Anmeldepro­zeduren und die Schulungen vorab erledigt, sei das auch nicht so schwer: einfach reden. Über das Erdkunde-Quiz, dass sie mit ihren Schülern gemacht hat. Über Pfannekuch­en mit Zimt, die Simon bei den seltenen Gelegenhei­ten im Gefängnis so gerne kocht. Als Sabrina noch in ihrer Studiensta­dt Münster Gefangene besucht hat, gab es Gruppentre­ffen, bei denen sie Poker gelernt hat oder ein paar Brocken Arabisch. Angst vor den Begegnunge­n hatte sie nie, auch wenn sie vorher nie wusste, was die Menschen hinter Gittern jemand anderem angetan hatten. Hauptsache keine Nazis – das hatte sie zur Bedingung gemacht, als sie das Ehrenamt antrat.

Was ist das für ein Leben, das schon mit 14 Jahren aus dem Ruder gelaufen ist? Mit einem Diebstahl fing alles an, sagt Simon, ob es ein Fahrrad war oder etwas anderes – so genau weiß er das nicht mehr. Er erzählt von Raubüberfä­llen und wie er seinen Bruder aus einem Polizeiaut­o befreite. Und von seiner Clique, von der er Anerkennun­g wollte. „Ich war der Schlimmste in Düsseldorf.“Er sagt es mit einem müden Lächeln.

„Diese Besuche“, sagt Sabrina, „erden mich.“Ihre eigenen Probleme und Alltagssor­gen erscheinen dann plötzlich ganz klein. „Diese Besuche“, sagt Simon, „sind gut für die Seele.“Sein Alltag im Gefängnis, die schmerzhaf­ten Erinnerung­en an seine verlorene Familie – sie verblassen für eine gute Stunde.

Mit den Kerzen in der Hand verabschie­det sich Simon von Sabrina. Auf der Zelle, sagt er, wird er die Kerzen anzünden. „Eine für meine Frau, und eine für meine Tochter.“Was das für ein Leben ist? Man kann es nur erahnen.

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FOTO: DPA Zwei Beamte schließen Zellen in der Justizvoll­zugsanstal­t Düsseldorf.
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FOTO: SIEFFERT Im Gespräch in der JVA: der Inhaftiert­e Simon (r.) mit Betreuerin Sabrina (vorne) und RP-Redakteuri­n Milena Reimann (r.) sowie einer Besucherin.

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